Faktor, Jan
um ihn an nachfolgendenweicheren Stellen wieder unschön
zusammensacken zu lassen. Noch viel schwerer zu ertragen war aber etwas anderes
- es waren die gut sichtbaren Atembewegungen seines Brustkorbs, die ihm die
Aura eines grobschlächtigen Schwerstarbeiters verliehen. Und er war tatsächlich
einer! Physiologisch gesehen was es vollkommen legitim, daß sich seine enorme
Anspannung ein Entlastungsventil gesucht hatte. Der Mann atmete aber so
intensiv, daß ich es leider auch ganz deutlich hören konnte. Beim Einatmen
pfiff und rasselte es in seinen Bronchien wie bei einem Asthmatiker, beim
Ausatmen seufzte er tief. Ich bekam Angst um ihn und mußte an das Röcheln von
Sterbenden denken, das ich mir während meiner Jugend schon zweimal hatte
anhören müssen - bei meinen im übrigen so schönen Krankenhausaufenthalten.
Die
Atemgeräusche des Mannes intensivierten sich in dramatischen Passagen enorm,
beim Lufteinziehen schienen sogar seine Nüstern zu flattern. Mit einer
freudigen Anleihe bei den Pferden hatte diese Flatterei aber kaum etwas gemein
- die Pferde tun es sowieso beim Ausatmen. Bei dem aktuellen Überlebenskampf
ging es einfach um die ausreichende Zufuhr des benötigten Sauerstoffs. Der Schwergewichtsklavierkämpfer
konnte die Luft einfach nicht anders einziehen als implosionsartig durch seine
Nase, da er gleichzeitig seine Lippen - offenbar aus mimikchoreographischen
Gründen - fest aufeinanderpressen mußte. Mir kam nebenbei noch ein anderer
erschreckender Gedanke: Vielleicht war der Mann tatsächlich ein Asthmatiker und
ehemaliger Patient eines der benachbarten Kurhäuser - oder einer ganz anderen
Einrichtung.
In den
kurzen Pausen zwischen den einzelnen Stücken wischte sich unser Interpret überall
den Schweiß ab, säuberte auch die Tastatur und versuchte, sich unauffällig aus
einem kleinen Fläschchen etwas Flüssiges in den Mund zu sprühen. Zwischen den
einzelnen musikalischen »Komplexen« gönnte er sich etwas längere Pausen und
verbeugte sich - noch sitzend und mit geschlossenen Augen - in Richtung des
Publikums, obwohl nur vereinzelt und eher vorsichtig geklatscht wurde. Man
wußte beim besten Willen nicht, wie man sich verhalten sollte - jede Art von
Beifall hätte bei ihm wie ein ironischer Kommentar ankommen können. Die
häßlichen Verbeugungseinlagen des sitzenden Mannes verärgerten sicher den einen
oder anderen Gast zusätzlich, irritierten in ihrer Unvernunft nur noch mehr -
und bereiteten den Boden für den grausamen Abschluß des Abends.
Das reguläre
Ende des »Musikalischen Bouquets« erlebten wir zum Glück nicht mehr. Der
Künstler entschloß sich, uns ausgerechnet seine eigenen Kreationen schuldig zu
bleiben. Vielleicht sollte es eine Art Strafe sein. Der viel wahrscheinlichere
Grund war aber seine völlige Entkräftung. Nach dem einigermaßen würdigen
Schlußakkord blieb der entromantisierte Titan eine Weile still sitzen, sammelte
sich innerlich und trocknere sich erst danach gründlich ab - ausführlich und
würdig. Daraufhin richtete er sich überraschend energisch auf und bot uns
frontal die schon wieder naß angelaufene Stirn. Der finale Beifall war voller
Erleichterung, fiel aber ausgesprochen schwächlich aus. Manche applaudierten
gar nicht. Der Mann verbeugte sich schnell und mit Verve, verstärkt in die
Richtung, aus der der Applaus einigermaßen deutlich kam.
Für die
Allgemeinheit wäre es - taktisch gesehen - sicher gut gewesen, wenn wir alle
einigermaßen laut applaudiert hätten. Und ich hätte gern allen Anwesenden die
Vorteile einer egal wie unaufrichtigen Würdigung nahegebracht, wenn es möglich
gewesen wäre. Ich befürchtete inzwischen schwere Endkampf-Komplikationen -
unspezifisch, aber deutlich. Es schien sich etwas Schlimmes zusammenzubrauen.
Kurz phantasierte ich über eine Bombe, die man in der Nähe des Hotels hätte
hochgehen lassen können. Eine gutdosierte Ablenkungsexplosion hätte uns - die
Zuhörer und den Pianisten - voneinander sicher am saubersten getrennt.
Der Mann
verbeugte sich herausfordernd und mit glühenden Augen inzwischen auch in die Richtung
derer, die NICHT klatschten. Er wackelte und wackelte mit dem Oberkörper immer
heftiger, und weil einige mitleidige Damen seine gymnastische Einlage -
wenigstens leise - weiter klatschend begleiteten, ging es eine Weile so weiter.
Ich schwitzte vor Scham inzwischen fast so intensiv wie unser Vorturner in der
Anfangsphase seines Klavierspiels. Als es im Raum wieder still wurde, blieb
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