Faktor, Jan
hat viel zu lange gedauert. Die Bergsteigerkluft war in der
Gegend offenbar so etwas wie ein VIP-Ausweis, man ließ mich eintreten. Die
Schweinesteaks im dünnen Knoblauchmantel waren so köstlich, daß ich am liebsten
»repete« gesagt hätte - also das gleiche noch einmal bestellt hätte. Für
verfressene Tschechen in gewöhnlichen Kneipen nichts Ungewöhnliches. Früher
funktionierte es in besonders traditionell geführten Häusern sogar wortlos.
Wenn man das Besteck nicht überkreuzt auf dem Teller plazierte, sondern
parallel zueinander neben dem Teller - nicht auf dem Teller - liegen ließ und
einen entsprechenden Blick aufsetzte, wußte der Kellner sofort, was dies
bedeutete. Man war zufrieden, aber noch nicht ganz satt, und man wollte genau
das gleiche noch einmal vorgesetzt bekommen. Der Gast konnte sich also ganz
still verhalten, sich meditativ auf das dritte und vierte Mittagsbier
konzentrieren und überlegen, ob er anschließend vielleicht noch eine dritte
Portion bewältigen würde.
Ich fühlte
mich an dem Abend im Interhotel für mein gutes Geld so liebevoll versorgt, daß
ich in dieser mutterschoßähnlichen Einrichtung am liebsten gleich als Hotelgast
geblieben wäre. Mein halbes Hunger- und mein ganzes Sehnsuchtsproblem löste ich
anschließend ganz einfach - ich ließ mir für den nächsten Tag einen Tisch
reservieren. Für das Mittag- und auch das Abendessen. Der nächtliche Aufstieg
zu meinem Zwanzig-Betten-Gemach war ein bitterer gesellschaftlicher Abstieg,
und meine schwer gewordenen Beine streikten von Anfang an. Aus Verzweiflung
vertilgte ich auf einem Rastplatz eine trockene Brotkante. Am nächsten Tag kam
ich nicht nur zum Essen in mein Hotel. Ich brachte mein ganzes Gepäck mit - und
die Überzeugung, keine andere Wahl gehabt zu haben, als dort ein Zimmer zu
beziehen. Ich nahm sogar ein prächtiges Zimmer nach vorn. Ein Kabuff mit einem
dreckigen Fenster zum Hof lehnte ich glatt ab. Ich stand lange auf dem Balkon,
sah mir aus dem dritten Stock die Promenade an - und seitlich auch die Gipfel
und die Pässe meiner geliebten Berge. Die Arbeitssuche vergaß ich erst einmal.
An vielen Gegenständen und Utensilien entdeckte ich den alten Namen des Hotels:
GRAND. Hier war ich passend und endlich angemessen untergebracht. Gleich am
ersten Abend durfte ich sogar etwas Kunst genießen - im großen Speisesaal
sollte ein Klavierkonzert stattfinden. Ein Pianist aus der Kreisstadt war in
der ganzen Gegend mit kleinen Plakaten angekündigt worden und sollte auf dem
Flügel, auf dem im Moment noch Servietten, Zahnstocher und Salzstreuer
abgestellt waren, eine bunte Mischung aus klassischen, romantischen, aber auch
modernen Klavierstücken zum besten geben.
Der Start
des Konzerts war leider schlecht konzipiert. Der Künstler wurde von keinem
Conferencier angekündigt, er kam vollkommen lautlos herein und stand in seinem
Frack dümmlich und viel zu lange neben seinem Gerät. Jede dort zugebrachte
Sekunde war eine falsch investierte.
Die
Gesichtsmuskeln des Mannes befanden sich in einem hochfrequenten
Spannungsspiel, versprachen nichts Gutes, und seine Körperlichkeit besaß wenig
an kunstfeuriger Ausstrahlung. Ich phantasierte sofort, daß er sich dauernd
verklimpern würde. Er machte auf mich schon zu diesem Zeitpunkt den Eindruck
eines Schicksalsgeschlagenen, der wahrscheinlich nichts anderes gewohnt war,
als von einem Schreckerlebnis zum nächsten zu torkeln. Viele Gäste bemerkten
den Menschen gar nicht oder hielten ihn für einen Oberaufseher der
Kellnerschaft. Daß wir so wenige waren, war für den Interpreten sicher ein
Schock.
Im Saal
saßen verstreut - an ihren Eßtischen wohlgemerkt - etwa fünfzehn Zuhörer. Ein
Ehepaar klatschte leise und verschämt. Der Pianist akzeptierte diese Begrüßung
aber nicht und stand weiter reglos da. Einige aßen immer noch, unterhielten
sich relativ laut und wußten gar nicht, daß sie störten. Mit Recht zeigte der
Mann endlich seine Unzufriedenheit verstärkt - mimisch wenigstens. Er fixierte
mit bösen Blicken die Applaussäumigen, versuchte vor allem die Köpfe derer
unter Blickbeschuß zu nehmen, die ihm ihre Gesichter noch nicht zugewandt
hatten. Wenn er konsequent gewesen wäre, hätte er zur Herstellung der Ruhe
unbedingt die reichlich vorhandenen Salzstreuer als Wurfgeschosse benutzt.
Diese standen aufgereiht auf einem Nebentisch. Er hätte unbedingt ganz schnell
handeln müssen, tat aber nichts, tänzelte leicht.
Sein
Dilemma war zugegebenermaßen
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