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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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gewaltig. Er hatte keine Machtmittel zur Hand,
besaß lediglich die ihm allein gehörende Gewißheit seines Könnens und wollte
sich nicht auf das Niveau der Betreuungssperson seiner selbst herabstufen.
Außerdem war er kein Mann des Wortes. Und er war allein. Dabei hätte unbedingt
jemand - wenn schon nicht mit Salzstreuern geworfen werden sollte - längst zu
kulturvolleren, trotzdem strengen Mahnungen übergehen müssen. In seiner
Ratlosigkeit begann der Mann am Deckel seines Flügels zu hantieren. Er fummelte
dort so lange, bis ihm die Stütze aus der Hand fiel und seine Notenblätter ins
Klavierinnere auf die Seiten rutschten.
    Daraufhin
konnte erden Deckel sogar bei passend kakophonischer Untermalung neu justieren.
Als er damit fertig war, fing er an, sich mechanisch und mit geschlossenen
Augen zu verbeugen. Einige klatschten deutlich und klar, wenn auch freudlos.
Bei weitem waren es nicht alle.
    Erst als
der Mensch zu spielen begann, erinnerten sich die Kellner an das
hektographierte Programm, daß sie hätten verteilen sollen. Laut Programmzettel
erwarteten uns nun Klaviertranskriptionen einiger Klassik-Evergreens und
einzelne Sätze bekannter Klaviersonaten. Als Höhepunkt wollte uns der Künstler
außerdem eigene Kompositionen vorstellen, die melodisch auf berühmten Arien und
sogar Schlagern basierten. Der Abend sollte anscheinend unter dem Motto:
»Kennen Sie diese Melodie?« stehen.
    Ich war
von Anfang an in keinem guten Zustand, die erste Hoteleuphorie war - schon
nachmittags - so gut wie verflogen. Ich fühlte mich furchtbar einsam und
bedauerte inzwischen, meine menschlich so präsente Herbergsmutter verlassen zu
haben. Bei dem Konzert ahnte ich von Anfang an nichts Gutes und hoffte stark,
dieses Erlebnis würde mich nicht in noch tiefere Seelenabgründe herabziehen.
Leider saß ich relativ weit vorn - und ich sah nicht nur alles genau, was vor
sich ging, ich hörte auch vieles, was man bei einem Konzert nicht unbedingt
hören sollte. Ich litt mit dem musikalischen Selbstquäler und -folterer von der
ersten Sekunde an mit. Der Mann war so nervös, daß er überall schwitzte. Daß
ihm der Schweiß vom Gesicht auf die Klaviatur tropfte, hätte noch als
betriebsüblich gelten können, seine Hände schwitzten aber ebenfalls enorm - und
außerhalb jeder Betriebstoleranz. Er rutschte, wie ich anfangs schon geahnt
hatte, besonders oft von den schwarzen Halbtontasten ab, und ich sah, daß sogar
seine Handrücken vor Schweiß glänzten. Seine eher dünnen und glanzlosen Haare
schillerten bald wie pomadisiert. Und weil sie dank der Feuchtigkeit immer
schwerer wurden, fielen sieihm wie einem Pudel dauernd über die Augen und
blieben dort auf seiner nassen Stirn gnadenlos kleben. Irgendwann halfen ihm
dagegen auch keine heftigen und schräg nach hinten gerichteten Kopfbewegungen
mehr. Bei diesen Einmalzuckungen sausten lediglich einige Schweißtropfen durch
die Gegend. Natürlich nicht ganze Wölkchen, wie man sie nach besonders harten
Punchs beim Boxen beobachten kann.
    Der Ärmste
mußte irgendwann kurze Zäsuren einlegen und sich von seiner Haarplage manuell
befreien. Sein Spiel litt zu allem Unglück außerdem noch darunter, daß er mit
seinen nassen Fingern beim Umblättern an den Notenblättern haftenblieb. Obwohl
er sich große Mühe gab, das Tempo zu halten, und obwohl seine Griffe geübt
wirkten, fand der Mann gegen die erstarkte Papierkohäsion kein Rezept. Das
durch die leichten Verzögerungen verursachte Stocken war irritierend, für ihn
sicher besonders. Vielleicht mußte er deswegen sogar ganze Takte überspringen.
Inzwischen spielte es aber keine besondere Rolle mehr, ob Tschaikowskij mit
einer jazzigen Synkope aufgefrischt wurde oder nicht.
    Ich war
nah daran zu flüchten. Nachdem ich diese Alternative verworfen hatte, überlegte
ich eine Weile, ob ich nicht nach vorn gehen und dem Mann vielleicht unauffällig
helfen sollte. Ich hätte unter dem Vorwand, seine inzwischen dauernd
kollabierenden Notenblätter aufrichten zu wollen, nebenbei mit einer
Stoffserviette seine Stirn, seine Handrücken oder die Tasten ... Nein, es war
unmöglich. Niemand konnte den Mann erlösen und ihn von seinen Haaren, seiner
Nässe und seiner Nervosität befreien.
    Er kämpfte
trotz aller Widrigkeiten weiter, blieb erstaunlich tapfer und musizierte voller
Hingabe. Zu dieser gehörte auch seine sicher gut eingeübte Körpersprache. Er
schwang seinen Oberkörper hin und her, versteifte ihn bei länger gehaltenen
Akkorden,

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