Faktor, Jan
Umständen einmal auch die Anziehungskraft
stinkender Füße und bakteriellseuchiger Achselhöhlen annehmen könnte.
Auf
Umwegen über einen anderen Freund erfuhr ich, daß meine mich fernumschlingende
Mutter furchtbar litt. Das war aber logisch - Trennungen sind eben schmerzhaft.
Und alle Schmerzen haben auch ihr Gutes. Mir ging es auch nicht besonders. Mein
Hauptproblem war, daß ich unter einem starken und nicht benennbaren Druck
stand. Die Spannung in mir war so überbordend, daß ich zu gar nichtszu
gebrauchen war. Ich konnte nicht klar denken und keine Beschlüsse fassen,
konnte mich auf überhaupt nichts konzentrieren, natürlich auch nicht lesen.
Meine Seele rotierte in mir intensiv in einer Art Leerlauf, gleichzeitig
schäumte und blubberte sie dumpf vor sich hin. Dieses Rotieren, Blubbern,
Schäumen - oder was es war - blieb dabei wie unter einem schweren Deckel
stecken.
Auf der
Straße steigerte sich dafür meine Vorliebe zum maßlos unkontrollierten
Herumglotzen. An sich - wie berichtet - nichts Neues bei mir, meine
Glotzleidenschaft wurde aber zu einem ernsten Problem. Ich betrieb sie wie
unter Zwang und nahm alles mit so krankhafter Neugier wahr, daß ich manchmal
Angst bekam, mich übergeben oder anders erleichtern zu müssen. Unerfüllte
Menschenleben auf lustlosen Beinen, wissende Tiere, Tausende von Details in
Vitrinen und auf Bürgersteigen, viel zu viele plötzliche Standortverlagerungen
von beräderten Vehikeln. Alle diese Straßenbilder hätten für mich nicht weiter
überraschend sein müssen - nicht das üble DINGVERHALTEN, nicht das kindliche
Tummeln der Sachwerte oder die ruhigen Geheimzeichen auf den Bordsteinen. Auch
die eingezwängten und viel zu selten aktivierten Pimmel der Männer waren meine
alten Phantasieziele. Und plötzlich beherrscht das Straßenbild ein Ehepaar -
und ihr zusammengerollter Teppich auf Schultern, die aus dem Takt geraten sind,
oder ein Kinderwagen mit unterschiedlich schräg eingeknickten Achsen. ETWAS WAR
NEU. Niemand entschuldigt sich bei mir, mich so gnadenlos mit Eindrücken zu
überfrachten. Zwar war ich mit den meisten Straßenorganismen - wie gewohnt -
nur auf Distanz und nur imaginär verbunden, vollständig okkupiert fühlte ich
mich durch die von ihnen verursachte Bilderflut jetzt aber trotzdem.
Persönliche Bekanntschaften hätten sicher einiges gemildert.
- Wohin
des Weges? hätte ich am liebsten jeden einzelnen gefragt, oder:- Heißen Sie
nicht... Sie wissen schon ... ich bin hier vollkommen fremd in der Stadt.
Die sich
wild überlagernden Aktivitäten der Menschen mit ihren Handwagen, Goldkettchen
oder sichtbaren Halsgeschwülsten waren vielleicht dazu bestimmt, mich bis in
meine Zukunft zu begleiten, mich ähnlich intensiv zu belästigen wie jetzt -
jedenfalls ähnlich hochpräsent zu sein, vergleichbar saugnäpfig. Und wenn sie
mich irgendwann doch zermürben und besiegen sollten, würden sie die Reste
meines Glücks sicherlich auch noch mit irgendwelchen kulturlosen Abfällen
verrühren wollen. Häßliche Zukunftsvisionen malt man sich wesentlich
konturschärfer, weil konkreter aus als die schönen in ihrer Diffusität, merkte
ich nebenbei. Das alltägliche Grauen rückte unterdessen immer näher an mich
heran - die Seele dieses Grauens, nicht unbedingt ihre materiellen Devastate
von den Bürgersteigen oder ihr angegammelter Abrieb aus der Nähe von
Kücheneimern. Die Schritt für Schritt sich vor dem Umfallen rettenden
Menschenkörper um mich herum wirkten nur teilweise lächerlich. Ich dachte beim
Anblick der tapfer wackelnden Gleichgewichtskünstler eher darüber nach, wie
ähnlich wir uns alle sind, wie gleichförmig unsere ständig mutierende Gattung
immerhin noch ist. Trotz der um sich greifenden Mißachtung der Normen und des
guten Geschmacks. Ich war voller Respekt: Die Spannungen und Zuckungen der an
die fünfzig in allen Gesichtern vorhandenen Muskeln - läuft dort drüben etwa
Dana? - konnten Unmengen an Nuancen ausdrücken, und jeder egal wie verwirrte
Straßenidiot war in der Lage, den Großteil der mimischen Signale an den anderen
zu dekodieren. Lauter kleine Genies, keine Frage. Gleichzeitig ging ich davon
aus, daß das Ausmaß der das eigene Leben betreffenden Ahnungslosigkeit überall
erschreckend hoch sein mußte. Ob diese Ahnungslosigkeit in den eigenen vier
Wänden anschwoll, ob sie im Winter schrumpfte - dazu hätte ich den einen oder
anderen Experten gern befragt. Und ob es ihr, der Ahnungslosigkeit - UND MIR -
guttat,
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