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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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einige ansässige Betriebe vorzudringen, in den Personalbüros erzählte
ich aber nur Dinge, die gegen meine Eignung sprachen.
    - Nein,
ich habe noch nie ein Schloß von innen gesehen. Oder ich flüchtete wortlos,
wenn ich in dem Personalbüro mehr als drei Augenpaare auf mich gerichtet sah.
    - Pardon,
sagte ich, verbeugte mich wie der Konzertpianist und ging.
    In der
Gegend hielten sich dauerhaft viele bekannte Bergsteiger auf. Man sah sie
während der Woche in der Arbeitskluft herumlaufen oder in irgendwelchen
Firmenfahrzeugen vorbeifahren. Manche dieser luftgegerbten Gesichter kannte ich
aus der Zeitschrift »Der Bergsteiger«, die ich mir in Prag ab und zu gekauft
hatte. Es waren meine Idole.sie hatten manche Extremrouten als erste bestiegen
- und diese trugen ihre Namen. Sie lebten in den Bergen, um in ihrer Freizeit
nichts anderes tun zu können, als wieder und wieder in die senkrechtesten Wände
zu steigen und ihre sehnige Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Ich konnte leider
nichts mehr aufs Spiel setzen, ich war zu nichts zu gebrauchen. Infolge meiner
Depression wurden meine Muskeln ohnehin so schlaff, daß ans Klettern gar nicht
zu denken war. Ich wäre sicher schon beim Aufstieg in eine glitschige Spalte
gerutscht. Ich meldete mich in Prag bei einem Freund an und verschwand mit dem
erstbesten Nachtzug.
     
    die
quader standen ruhig, atmeten vor sich hin und waren sich selbst genug
    In Prag
plötzlich wie ein Tourist herumzulaufen, wie ein Unbehauster dazustehen, war
für mich vollkommen neu. Berauschend war es leider überhaupt nicht. Mein Freund
wohnte in einer in vier Wohneinheiten zerteilten Höhle. Die Straßen des
Arbeiterviertels Zizkov waren abschüssig und trotz ihrer Baumlosigkeit düster.
Ihre Düsterkeit verursachte vor allem die Enge, den Rest besorgte ihr Dreck,
der - auf der Straßenebene reichlich vorhanden - an den Fassaden problemlos
vier Stockwerke hochkriechen konnte. Für Bäume hätte es in dem Straßengedränge
gar keinen Platz gegeben. Für mich war es eine Gegend voller städtischer
Kulturlosigkeiten, und an so etwas war ich von früher überhaupt nicht gewöhnt.
Mehr noch - diese häßliche Seite meiner goldigen Stadt war mir aus nächster
Nähe vollkommen unbekannt. Ich bekam das Gefühl, in ein chemiedampf-geplagtes
Industriegebiet irgendwo im Braunkohlerevier des Nordwestens versetzt worden zu
sein - in eine ähnlich chlorophylfreie Untergangswüste, wie ich sie von meinen
Rennrad-Erkundungsfahrten kannte.
    Die
Mitbewohner meines Freundes waren drei ältere Männer, die sich schon seit
Urzeiten kannten. Ein vierter Mann dieser Brüderschaft war ein Jahr zuvor zu
einer Frau gezogen und von ihr angeblich mit Rattengift umgebracht worden -
möglicherweise wegen seiner Briefmarkensammlung. So etwas gab es bei uns zu
Hause auch nicht.
    Die Diele
der Wohnung war geräumig und diente allen Bewohnern als Gemeinschaftsraum. Ein
Horror für mich. Die Küche bewirtschafteten die Männer gemeinsam. Ich durfte
als ein illegaler Untermieter in einer verkramtenKammer auf einer Matratze
schlafen und dafür etwas in die gemeinsame Kasse einzahlen. Die Männer rauchten
viel und spielten andauernd Karten, ihre nichtssagenden Gespräche waren endlos.
Ich war aus der einigermaßen heilen Bergwelt praktisch über Nacht in einer
Beziehungs- und Wohneinöde gelandet. Ich tröstete mich damit, daß ich mir
früher eigentlich derartige - oder noch viel üblere - Erfahrungen gewünscht
hatte. In meinen vorvergangenen Phantasien hatte sich diese Wirklichkeit
allerdings viel aufregender angefühlt. Die Abkoppelung von meinem mütterlichen
und tantenhaften Zuhause war darin ein angenehmer, wenn nicht sogar amüsanter
Schritt in Richtung Autonomie, ein äußerlich zwar düsteres, trotzdem von
zuverlässigen Strahlenquellen durchflutetes Intermezzo gewesen - eine
Horizonterweiterung für höhere Söhne sozusagen. Das aktuell erreichte
Vorstadium meiner Zukunft war leider nur unappetitlich und sauerstoffarm, und
ich ließ alle Gedanken darüber, wie ich mein Leben konkret gestalten sollte,
erst einmal lieber unberührt. In der Küche faulten hinter dem Abfalleimer
haufenweise Essenreste, in einer Ecke der Diele wuchs ein Berg dreckiger
Wäsche. Mir war dank des unausrottbaren Geruchs der Wohnung dauernd übel, und
in einer hellen Sekunde fragte ich mich doch, wie mein erwachsenes Leben nach
dem Wegfall aller mich schützenden Träumereien später aussehen könnte. Und mir
schwante, daß mein Dasein unter

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