Faktor, Jan
Regenwasser und die Schimmelpilze sowieso.
Daß ich
mich in den Neubaugebieten von allen Seiten beschossen fühlte, war nicht der
Grund dafür, daß ich versuchte, sie zu meiden. Mich zog sowieso eher die
ursprüngliche Bausubstanz der Stadt an. In diesen Vierteln konnte man an
ruhigere Zeiten denken, in denen die Alltagsrealität noch in der Gesellschaft
wurzeln durfte und nicht an irgendwelchen Schreibtischen von Neuzeit-Demiurgen
entworfen - also nicht umgeworfen und bei Blasmusik vergewaltigt wurde, um zum
dauerprovisorischen Richtfest gepeitscht zu werden. Ich suchte gierig nach
diesen Rudimenten, wollte mir vorstellen, wie es sich an den Rändern meiner
Stadt früher vielleicht gelebt hatte. Die Häuser der billig gebauten alten
Arbeiterviertel waren niedrig, sie hatten kleine Höfe, in denen noch leere
Hundehütten standen. Manche Straßenzüge wirkten eher kleinstädtisch, fast
dörflich. Nur anhand der Ausdehnung dieser schlecht durchbluteten
Vernachlässigungszonen konnte man noch erkennen, daß man sich in einer
Großstadt befand. Die Nekrose war hier aber eindeutig auf Siegeskurs. Viele
Dächer und Dachrinnen waren seit Jahren undicht, das Regenwasser floß
breitflächig an den Wänden herunter. Und weil die Fallrohre unten in der Regel
verstopft waren, verbreitete sich die Feuchtigkeitauch von unten nach oben. Die
feuchten Stellen setzten Moos an, auf den Dächern vegetierten schon die Birken,
der Putz fiel ab und die Wände zeigten rohes Fleisch. Und weil es sich nicht
lohnte, diese ärmlichen Behausungen für die sozialistische Zukunft zu erhalten,
wurde in sie auch nicht investiert. An ihrer Stelle sollten später sowieso
Plattenbauten der nächsten Generation, des nächsten oder übernächsten
Fünfjahrplanes - wenn es die Ressourcen eben erlaubten - zu stehen kommen. Aber
den wenigen rekonstruierten Häusern sah man den zeitgeistgerechten Trend zum
Niedergang auch schon an. Die sozialistischen Verschönerungsmaßnahmen hatten
gegen die Witterung wenig Chancen, manche der frisch aufgetragenen Farben
blätterten trotz ihrer Jungfräulichkeit großschuppig ab, oft hatten sich ihre
wasserlöslichen Anteile schon längst über die Bürgersteige ergossen; und an den
neu verputzten Stellen quoll der Mörtel auch schon wieder zu beeindruckenden
Beulenlandschaften auf. So konnte man im Zeitraffertempo sehen, wie die
Fehlgeburten der geleisteten Arbeit Runzeln bekamen, wie die Früchte der
geopferten Begabung und der ausgequetschten Restenergie lediglich darum
kämpften, im Verrottungswettbewerb möglichst nicht zu gewinnen.
Aber das
war immer noch nicht das Schlimmste an der Peripherie. Am schlimmsten waren die
nicht genutzten Industriegrundstücke, die die sozialistischen Betriebe zum
Abstellen oder Zwischenlagern ihrer ausgedienten Maschinen, ihres nicht mehr
reparablen Fuhrparks, ihrer unbrauchbar gewordenen Güter nutzten - oder zum
Entsorgen ihrer gefährlichen Abfälle mißbrauchen durften. Manche Gegenden sahen
vor allem abends apokalyptisch aus. Überall undefinierbare schwarze Berge von
Schutt, auf denen man Silhouetten von spielenden Kindern sah. Dort stemmten
sich wie in einem Freilichtmuseum technische Ungetüme gegen die Abendsonne und
glichen in ihrer Trauer erstarrten Sauriern. Diese funktionsfreudigen Wesen
würden fürdas Land nie wieder ruck-zucken dürfen, sie langweilten sich wie
eingeschlossene und vergessene Haustiere. In einem unbebaubaren Seitental fand
ich eine Art Skansen von neuzeitlichen Pyramiden aus unterschiedlichen und
unterschiedlich stark leckenden Industriefässern. Manche dieser Pyramiden
blubberten und tickten dabei wie Bomben. Ihre besonders gewichtsgequälten
unteren Kaskadenstufen signalisierten mit Morsezeichen, sich demnächst mit
Wucht erleichtern zu wollen. Sie drohten ganze Straßenzüge mit zyankalihaltigem
oder anders giftigem Brei zu überfluten. An manchen Flächen sah man aber auch
interessante Industrieraritäten und begriff, daß in einigen Betrieben offenbar
noch vor kurzem mit Maschinen vom Anfang des Jahrhunderts gearbeitet worden
war.
Um mich zu
beschäftigen, versuchte ich, den tieferen Zweck der besonders interessanten
Überraschungen zu begreifen. Auf den ersten Blick sah man oft nur
Materialreste, Bauschutt oder diversen Sondermüll, dabei handelte es sich
teilweise eher um Restvorräte, die an den freien Flächen für schlechte oder
noch schlechtere Zeiten deponiert worden waren. Die gewieften Betriebsleiter
wußten genau: Alle möglichen
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