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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Körpertrauben drückte
die Eingangstüren wiederholt gegen die Türstopper, und die
entstandenenHebelkräfte waren auch für die robustesten Türscharniere auf Dauer
tödlich, auch der beste slowakische Stahl schlaffte eines Tages ab. Die nicht
genutzten Ecken und Winkel der Einzelhandelsparadiese wurden nach und nach
vollgepißt und vollgedreckt, und man gab es irgendwann auf, sie sauberzuhalten.
Der Urin fraß sich ins Mauerwerk und blieb mit ihm chemisch auf immer und ewig
verbunden. Aber die unglücklichen Ecken waren sowieso für nichts und wieder
nichts auf der Welt, waren von Anfang an zum Verdrecken und Verrecken
verurteilt.
    Zu diesen
Bauten gehörten natürlich noch einige falsch konzipierte Fenster, die
nachträglich mit billigen Ziegeln zugemauert und danach nicht verputzt wurden.
Nach und nach wurden einige nicht zuzumauernde Schwachstellen an den Flanken
der Gebäude mit schlecht angestrichenen Gittern abgesichert, die Außenwände
zierten bald rostige Tränenspuren, und die mit Gittern besonders reichlich
bedachten Schnapsläden verwandelten sich in kleine Festungen und glichen
primitiven Bankfilialen, wie man sie aus gesetzesfernen Provinznestern kannte.
Irgendwann kamen die Zimmerleute und errichteten endlich an der passenden
Stelle des Gebäudes eine provisorische Zusatztreppe aus Holz, die dort noch
viele Jahre - also dauerhaft - zu bleiben und zu dienen hatte. Nebenbei
stützten sie mit ihren Balken die experimentell zarten Stufen der disharmonisch
breiten Aufgänge, weil diese inzwischen viel zu viele Risse gebildet hatten. So
sahen die neuzeitlichen Prachtbauten bald wie vergammelte, zum Abriß
vorbestimmte Ruinen aus, die sich als halboffizielle Toiletten und öffentliche
Kotzanstalten regelrecht anboten.
    Ich hielt
es in der Männergemeinschaft nicht lange aus - und mußte es letzten Endes auch
nicht. Nachdem ich, der auserwählte Glückspilz, in einer Telefonzelle ein
Notizbuch mit meinen gesamten Adressen und Telefonnummern hatteliegenlassen,
rief mich eines Tages ein slowakischer Gebirgsträger an. Er hatte mein
Notizbuch gefunden, kurz bevor er in die Tatra zurückfahren mußte. Und wollte
nun wissen, wie er mir meine wertvollen Adressen und Nummern am besten
übergeben könnte. Ich mußte also zurück in die Berge - genau dorthin, wo ich
vor kurzem gewesen war. Die Zeit drängte sowieso - ich hätte eigentlich
arbeiten gehen, das heißt ein Arbeitsverhältnis nachweisen müssen.
Arbeitslosigkeit gab es im Lande nicht, es herrschte im Gegenteil die strengste
Arbeitspflicht. Und weil der Stempel des Betriebes - mit Datum - direkt in den
Ausweis gedrückt wurde, konnte jeder Polizist an jeder Ecke feststellen, ob man
aktuell beschäftigt war oder nicht - also ein Gammler oder kein Gammler war.
Für die Menschen mit einem jungfräulichen Einstellungsstempel war das
Alltagsmanagement dagegen ganz einfach. In der Arbeitszeit sozialistisch
einkaufen, sozialistisch auf dem Betriebsgelände entspannen - das durfte man
ohne Ende. Man mußte sich das nur entsprechend einrichten. Die besonders
Pfiffigen richteten sich in verborgenen Nischen ihrer Betriebe sogar bequeme
Schlafplätze ein.
    Ich hätte
dagegen - dank des gefürchteten Paragraphen 203, mit dessen Hilfe »die Organe«
aus einem einmaligen Vergehen problemlos ein Verbrechen fabrizieren konnten -
bald verhaftet werden können. Theoretisch war man bereits nach sechs Wochen ein
Verbrecher, und die Gefängnisse waren voll von Gammlern und Parasiten wie mir.
Die Polizei wußte, wo diese Leute am besten zu finden waren und an welchen
Merkmalen man sie erkennen konnte. Oft hatten diese Leute nur versucht, sich
eine Weile außerhalb der Zugriffsmöglichkeiten von Kaderabteilungen
durchzuschlagen, manche wollten sich einfach eine kurze Pause gönnen. Meine
Haare waren noch nicht allzu lang, und ich wirkte bei meinen Spaziergängen
vielleicht sogar wie ein produktiv irrender Verantwortungsträger. Trotzdem -
ich lebteschon länger von geliehenem Geld und war im Grunde ein klassisches
Exemplar eines Parasiten. Ein Fahnenflüchtiger war ich zum Glück nicht. Ich war
kurz vor meiner Flucht in die Berge überraschenderweise ausgemustert worden -
wegen einiger Knochenbrüche aus der Kindheit und aufgrund späterer, zum Teil
aktueller Verletzungen, die ich mir bei Stürzen von Sandsteintürmen zugezogen
hatte.
    Wieder in
die Natur einzutauchen war heilsam. Und daß ich dort jemanden persönlich
kannte, in diesem Menschen einen Verbündeten hatte,

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