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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Bewegungslosigkeit verurteilt. In dieser Nacht
verriet mir Petr seinen Traum, den er eigentlich für sich behalten, also
geheimhalten wollte.
    - In
Kalifornien gibt es eine senkrechte und vollkommen glatte Granitwand, tausend
Meter hoch, stell dir das vor, Georg. Das Tal heißt Yosemite, da gehöre ich
hin.
    Ich erzählte
ihm endlich auch einiges über mich und meine Mutter. Und später schlief ich in
meinen Schlingen sogar mehrmals ein. Als es heller wurde, ging es weiter. Vom
letzten Sims der Wand sahen wir den Sonnenaufgang, und unsere kalt gewordenen
roten Nasen glühten dabei wie Alarmleuchten.Ich hatte diese Balanceakte an den
Abgrundkanten nicht nur gesund überlebt, ich wurde ähnlich sorglos wie Petr.
Als er abgereist war und mich zurückgelassen hatte, ging ich allein in die
Wände. Petrs Benimmregeln für die Extremrouten hatte ich übernommen: Solange
man an drei Punkten einen Halt hat, verschwendet man keine Vorstellungskraft
darauf, daß es den freien Fall gibt. Was zählt, ist die entspannte Gegenwart.
An irgendwelche Tanten, zerfallende Städte, alternde Mütter, häßliche
Paragraphen oder Schlafplätze in den Betrieben zu denken wäre gefährliche
Zeitverschwendung. Vor Augen hat man den sichtbaren Abschnitt des Aufstiegs, in
den nächsten Sekunden gibt es einige Griffe zu bedenken und hinter sich zu
bringen. Wenn sich meine vielen Tanten unterhalb der Felswand versammelt
hätten, hätte es sicher ein herrliches Stimmenkonzert gegeben.
    - Ist das
etwa DAS KIND? Ist dieses zarte Wesen unser Georg? Nein, das kann nicht sein!
Solche Qualen würde er uns niemals bereiten. Wie hält er sich dort fest? Was
macht er so weit oben überhaupt, warum klettert er immer höher? Dabei geht es
da überhaupt nicht weiter!
    - Ruhe da
unten! Natürlich geht es hier weiter.
    - NEiiiiN!
würden sie stöhnen und schließlich in die Knie gehen. Nicht doch, komm zurück!
Das alles kann nur böse enden! Aber WIE kommt der Unglücksrabe überhaupt
herunter? Hast du etwas zu trinken dabei? Hast du eine Wollstrickjacke im
Rucksack? Auf dem Gipfel wird es viel kälter sein als hier - und du bist so
dünn angezogen.
    Heute
denke ich an meine Solotouren alles andere als schweiß- und schwindelfrei. Ich
kletterte oft völlig ungesichert, außerdem wußte auf meiner Hütte niemand,
wohin ich aufgebrochen war. Ich fühlte mich genauso unzerstörbar wie mein
Meister. Petrs lange Arme, seine am Sandstein trainierten Finger und seinen
Traum vom Yosemite Valley hatte ich trotzdem nicht. Eines Tages verliebte ich
mich indie Schwester eines Bergsteigers, die als Versorgungsmamsell mitgekommen
war und auf der Hütte ebenfalls übernachtete. Als abends Wein getrunken wurde,
hatten wir beide das am Tisch laufende Gespräch irgendwann ausgeblendet und
begannen uns spontan und vor aller Augen zu küssen. Um die anvisierten Lippen
des anderen zu erreichen, mußten wir, da wir nicht nebeneinandersaßen, einer
Weinflasche und zwei Kerzen ausweichen und unsere verdrehten Hälse leicht
strecken. Ihre glatten Haare reichten, wenn sie sich im Sitzen etwas bückte,
fast bis zum Fußboden. Wir kannten uns erst seit zwei Tagen, hatten uns
zwischendurch höchstens dreimal kurz unterhalten und uns beim Begrüßen nicht
einmal die Hand gegeben. Unser Kuß war die erste körperliche Berührung zwischen
uns - und alle wußten das. Alle am Tisch schauten uns zu, die ganze Tischrunde
wurde still und freute sich über die frisch geschlüpfte Liebe, die die erste
Schallmauer durchbrochen hatte. Auch der sehnige und mädchenlose Bruder freute
sich über das Glück seiner Schwester. Mein Leben war auf bestem Wege, noch
besser und heller zu werden. Meine glückliche Zukunft schien 2015 Meter oberhalb
des Meeresspiegels möglich zu sein.
    Eines
Tages kam über Funk die Nachricht, daß für mich ein Telegramm aus der
Hauptstadt gekommen war - meine Mutter hätte einen Schlaganfall bekommen. Ich
mußte nach Hause. So kehrte ich nach knapp zwei Jahren in die Gegenwart zurück.
    Ich wurde
praktisch über Nacht wieder zum behüteten Kind der Familie und konnte dagegen
wenig ausrichten. Wie derartige Rückschaltungen in der Seele verschachtelt
werden, ist mir bis heute nicht ganz klar. Mein aktueller Absturz war schlimmer
als das halbe Sterben für Jochen Rindt. Mutters Schlaganfall war zum Glück
relativ harmlos. Sie erholte sich schnell, kam aus dem Krankenhauslächelnd
wieder heim und sah vollkommen unverändert aus. Sie sollte sich schonen. Eines
Abends kamen mehrere

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