Faktor, Jan
Die Leute kamen in der Regel alle zurück -
und waren trotz ihrer Lädierungen immer glücklich. Blutende Wunden hatten sie
nur selten.
Mit meinem
eigenen Bergsteigerleben ging es im Frühjahr dann tatsächlich aufwärts,
wortwörtlich bergauf. Als im Frühsommer ein begabter, aber auch gefährlich
ehrgeiziger Bergsteiger im Tal auftauchte, wurde die Lage sogar dramatisch.
Dieser Mensch wollte unbedingt in die Nationalmannschaft aufgenommen werden, um
mit dieser im übernächsten Jahr auf eine Expedition in den Himalaja gehen zu
können. So brach auf meiner kleinen Hütte die Hölle los, und auch ohne die
vereisten Nordwände ging es plötzlich um Leben und Tod. Dieser besessene
Kletterer - eigentlich war er ein Sandsteinspezialist - brauchte für seine
Extremstrecken einen zweiten Mann und mußte, um sich für die Nationalauswahl zu
qualifizieren, hintereinander alle gefährlichen Wände besteigen und möglichst
alle hochgradig schwierigen Routen absolvieren. Anfangs suchte er sich wahllos
begeisterungsfähige Freizeitsportler aus. Diese waren meistens aber nur einmal
zu gebrauchen. Nach der Rückkehr standen sie unter Schock und sahen extrem blaß
aus. Sie wollten möglichst nie wieder glatte Felsen sehen, wollten sich nie
wieder wundern müssen, wie man überhängende Felsdecken überhaupt lebend
verlassen kann.
Der
Bergwandextremist hieß ausgerechnet Petr - genauso wie mein alter Freund Skopka
-, und seine Anziehungskraft blieb trotz seines düsteren Leumunds ungebrochen.
Petr war einfach pausenlos voller Gelassenheit und Freude. Wenn er auftauchte,
konnte man sich nicht vorstellen, ihm könnte jemals etwas zustoßen. Abends
schien er nie abgekämpft und müde zu sein, erzählte Anekdoten aus dem Leben in
seiner Kleinstadt und machte sich über seine vaterlose Familie lustig, das
heißt besonders über seine eigene Mutter. Nebenbei zog er irgendwelche
Touristen auf, tat es aber so gutmütig, daß er niemals Ärger bekam. Und er
freute sich den ganzen Abend auf den kommenden, das heißt den nächsten
gefährlichen Tag.
- Jungs,
kann man mit der Lastenschlepperei ganz gut verdienen?
- Klar!
antwortete er für uns alle. Jeder hat sich davon schon ein Haus gebaut.
Petr hatte
einen schmalen, alles andere als tierischen Schädel, dafür hatte aber seine
Figur eindeutig etwas Affenartiges. Seine Arme waren extrem lang, seine
riesigen Hände baumelten, wenn er sich nur ein bißchen bückte, neben seinen
Knien; so breite Schultern wie seine hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Und
er war dauernd beim Üben - er kletterte zwischendurch an den Wänden und Ecken
meiner Schutzhütte herum. Die Wände bestanden aus relativglatten Granitsteinen,
und niemand außer ihm konnte sich an den kleinen Unebenheiten der Granitquader
lange halten. Petr schaffte es dagegen, um die ganze Hütte herumzuklettern.
Dabei ist das seitliche Traversieren viel schwerer als jedes vertikale
Aufsteigen. Abends machte er im Vorraum der Hütte bei unseren
Klimmzug-Wettbewerben mit und gewann sie meistens. Nebenbei sah er sich wie auf
einem Sklavenmarkt nach neuen Kletterpartnern um.
Ich war
immer schon ein Leichtgewicht und hatte seit der Schulzeit keine Probleme, mich
an Stangen oder Seilen freihändig - also ohne Beine - bis zur Decke
hochzuhangeln. Jetzt kam noch mein seelisches Leichtgefühl hinzu. Bei den
abendlichen Wettkämpfen schaffte ich manchmal mehr als zwanzig Klimmzüge, und
eines Tages konnte ich zu Petrs verlockendem Angebot nicht mehr nein sagen. Es
herrschte sowieso Not am Mann. Petr hatte vor, den ganzen Sommer zu bleiben.
Schon bei
unserem ersten gemeinsamen Aufstieg erfuhr ich relativ viel über sein
Mutterleiden. In seiner dauerhaften Heiterkeit hatte er keine Hemmungen, seine
familiären Probleme preiszugeben - egal, wie intim diese waren. Wie im Lande
üblich lebte er noch zu Hause, seine Mutter hing an ihm wie eine Klette und
hatte um ihn fürchterliche Angst. Sie zitterte angeblich dauernd - egal, ob er,
wie sie meinte, zu gedankenlos die Straßen überquerte, egal, ob er, wie sie
meinte, viel zu schnell mit seinem Rennrad unterwegs war oder viel zu laut
politische Witze erzählte. Ihr zuliebe hätte er sich vor allem aber niemals in
der Nähe von irgendwelchen Felsen herumtreiben dürfen. Dabei war Petr, was das
Klettern anging, absolut nicht zu bremsen. Er war maßlos - schon auf den
Geröllhängen unterhalb der eigentlichen Felswände kletterte er da und dort an
vorgelagerten kleinen Felsvorsprüngen und trainierte
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