Faktor, Jan
Chefarztbehandlung, versteht sich. Auf den Röntgenaufnahmen meines
mit weißer Kontrastmasse gefüllten Magens waren nämlich keine Geschwüre zu
entdecken gewesen. Vor mir öffnete sich langsam die Perspektive einer Odyssee
durch alle empfehlenswerten Kliniken des Landes.
Meine
Zukunft gab es in dieser Zeit vorsichtshalber gar nicht. Ich war mit voller
Wucht zu Hause angekommen, wohnte dort, wo ich die ganze Kindheit gewohnt hatte
- trotzdem war nichts wie früher. In dieser Situation bekamen wir in der
Wohnung einen Zuwachs - bei uns zog unverhofft Mutters langjähriger offizieller
Liebhaber ein. Er war ein gebildeter und begabter Mann, er war Schriftsteller
und ein guter Erzähler. Über manche privaten Dinge erzählte er aber auch meiner
Mutter nichts. Wahrscheinlich dümpelte sein innereheliches Parallelleben auch noch
weiter - irgendwo im Prager Normbereich. Bis zu dem aktuellen Haßausbruch
seiner Gattin jedenfalls. Die seit Jahren Betrogene war inzwischen
tablettenabhängig und trank. Trinken tat sie nur quartalsweise - dann aber
richtig.
- Sie
bewirft mich einfach mit Tassen und Tellern! Auf diesem Niveau spielt sich das
jetzt ab bei uns! Soll sie die Teller auf den Boden schmeißen, wenn ich nicht
zu Hause bin!
Daß sich
in meiner Nähe ein zweiter erwachsener Mann aufhielt, bedeutete für mich eine
aufregende Abwechslung. Im Gegensatz zu meinem Onkel handelte es sich um ein
Wesen mit stark behaarten Armen und einem festen Händedruck. Meine Mutter und
ihr Freund verstanden sich stundenweise ausgezeichnet, waren es aber absolut
nicht gewohnt, miteinander in einer Wohnung auszukommen. Als meine Mutter
dreckige Socken neben dem Telefon liegen sah, sagte sie nachdenklich:
- Nein,
das geht nicht, so geht das nicht.
Nach Hause
konnte sie ihren Liebsten trotzdem nicht schicken. Bald fing der Mann an zu
jammern, daß er das und jenes im Fernsehen nicht sehen konnte, und enthüllte
damit, wie brav er seine Abende zu Hause offenbar sonstzu verbringen gewohnt
war. Ab und zu sah er beim Onkel fern, litt aber unter dessen Stimmungsdiktatur
und seiner Sturheit. Die Schrankburg wollte er bald nicht mehr betreten. Den
ganzen Abend mit meiner Mutter reden konnte er aber auch nicht - und zum Lesen
mußte er angeblich allein im Raum sein.
Er fand
eine exzellente Lösung. Er legte sich in die Badewanne, okkupierte das Bad für
Stunden und las einfach dort. Und weil er kein abgekühltes Wasser mochte, zog
er dauernd den Stöpsel heraus und ließ warmes Wasser nachlaufen. Die
Badezimmertür war verschlossen, das Fenster zum Lichtschacht wie gewohnt auch.
Und unser uralter, oft zündfauler Durchlauferhitzer verbrauchte nach und nach
den nur begrenzt vorhandenen Sauerstoff.
In den
Phasen des akuten Sauerstoffmangels verringerte sich wenigstens die
Wahrscheinlichkeit, daß der Durchlauferhitzer aus Verpuffungsübermut
explodierte. Die immer wieder erfolgenden Explosionen, bei denen meistens das
Abzugsrohr abgeschossen wurde, waren für den jeweiligen Badenden auch nicht
ungefährlich. Mutters Freund lag also eines Tages friedlich in der Wanne und
atmete beim Lesen vor sich hin - und als aus den Wasserdämpfen die letzten
Sauerstoffreste ausgebrannt und ausgeatmet waren, dafür aber der
Kohlenmonoxidgehalt angestiegen war, fühlte der eingeweichte Mann plötzlich,
daß sein Bewußtsein ihn im Stich lassen wollte. Er schaffte es, mit den letzten
Kräften aufzustehen, sein Buch vor den Wassermassen zu retten und zwei Schritte
in Richtung Flur zu tun. Dann fiel er gegen die milchverglaste Tür.
Was mir
durch die Glastür entgegenfiel, war seltsam - ein trockenes Buch in den
verkrampften Fingern einer verschwitzten Leiche. So etwas sieht man im Leben
wirklich nicht oft. Der Mann versuchte noch kurz, durch die zersplitterte
Scheibe weiterzukommen - instinktiv zum Sauerstoff hin. Zwischen uns schwankte
sein trockenes, nochnicht blutbeflecktes Buch in der Luft. Ich stand still, mein
behaarter Stiefvater näherte sich mir zentimeterweise, aber doch erfolglos
weiter, rollte dabei mit den Augen. Er hatte mehrere böse Schnitte im Gesicht
und an den Händen, sein Blut kolorierte die in die unteren Glasscheiben
geätzten Rosen tatsächlich rot. Zum Glück hatte er sich bei seinem Stunt keine
Schlagader verletzt.
Nachdem
mein Neustiefvater aus dem Krankenhaus entlassen worden war, wurde er als ein
Leidender wieder zu Hause aufgenommen. Und ich wußte dank des schwadenschweren
Vorfalls wenigstens, wie der Tod aussieht, wenn er
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