Faktor, Jan
Stelle aber keine andere Wahl gehabt.
Wie ich
aus dem Physikunterricht wußte, fliegt man schon nach drei Sekunden mit der
Geschwindigkeit von über 100 Stundenkilometern. Irgendwann kam dann der Ruck -
und dieser kam, da die oberen Fixpunkte fehlten, aus einer unerwarteten
Richtung. Über die nächsten Momente weiß ich leider nichts. Ich wurde nach
unten gerissen, mein Körper war nur als ein steifer Bremsklotz gefragt. Als
alles vorbei war, hing ich etwas schräg an der Wand und fühlte mich in meiner
festgezurrten Seilschlaufe wie gefesselt. Petr baumelte weit unter mir, schien
aber nirgendwo aufgeschlagen zu sein. Die beiden Sicherungshaken hielten den
nach unten vektorierten Stoß aus - sie hielten den Stein fest, hielten sich
gegenseitig fest, hatten die Belastung ertragen, die man zum Abbremsen eines
75-Kilo-Körpers bei einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/h eben braucht.
- Jochen
Rindt hatte bei seinem Unfall einen solchen Punktevorsprung, daß er die
Weltmeisterschaft am Ende trotzdem gewonnen hat - als Toter. Ein Ding, was?
sagte Petr, als er wieder bei mir ankam.
Petr
kletterte gleich weiter, ihm war tatsächlich nichts passiert. Dafür war ich
bald voller Blut. Mir fehlten an den Händen, Armen und am Hals ganze
Hautstreifen, die mirunser Seil heruntergeschmirgelt hatte. Anfangs waren die
offenen Stellen - vor lauter Schreck, nahm ich an - noch vollkommen trocken
gewesen, obwohl darin breitflächig ruhendes Muskelfleisch zu sehen war. Als ich
meinen Stand verlassen wollte und seitlich auf die Sicherungshaken einschlug,
erlebte ich noch eine weitere Überraschung. Die beiden Haken, die uns das Leben
gerettet hatten, ließen sich mit nur zwei erschreckend leichten Schlägen sofort
lockern.
Petr hatte
den Sturz als eine völlige Lappalie abgehakt, das systematische Absolvieren der
Extremrouten ging weiter. Da wir gleichzeitig auch arbeiten, also Proviant,
Brennholz und Baumaterial aus dem Tal schleppen mußten, waren wir manchmal
etwas erschöpft - bereits vor dem Aufstieg. Viele Enttäuschungen bereiteten mir
in den Extremabschnitten ausgerechnet meine Arme. Mit ihnen mußte ich oft lange
oberhalb meines Kopfes ausharren, mit Karabinern und Strickleitern hantieren -
und irgendwann nahte der Punkt, an dem ich mich nur noch als eine tickende
Fallbirne empfand. Ich sah es im voraus kommen, konnte aber nichts mehr tun -
die Oberarme waren leergelaufen, meine Finger rutschten ab, die Hände öffneten
sich. Meine kurzen Stürze waren zwar relativ risikolos - Petr hielt das Seil
grundsätzlich kurz -, ich baumelte aber oft unglücklich in der Luft oder
inmitten einer vollkommen glatten Felsplatte. Petr war geduldig und gab mir
gute Tips, helfen mußte ich mir dann selbst.
Manchmal
wußte ich nicht gleich, wie ich mich aus meinen verknoteten Schlingen befreien
sollte, und schnürte mich ab. Ein ruhiger Profi war ich immer noch nicht. Was
ich praktizierte, war teilweise einfach »learning by falling«. Da wir keine
Walkie-talkies hatten, brach unsere Kommunikation, wenn Petr hinter einer
massiven Wandkante verschwunden war, manchmal vollkommen zusammen. Und das war
fatal, wenn beispielsweise das Seil irgendwoklemmte oder ich an einer Stelle
unbedingt mehr Bewegungsfreiheit gebraucht hätte. Wenn ich nicht weiterwußte,
schrie ich lange in den Wind, mußte mich schließlich einfach totstellen.
Irgendwann seilte sich der neugierige Petr wie eine Spinne am Hilfsseil herab.
Manchmal machte man sich unten im Tal Sorgen um uns, und irgendwelche
unterbeschäftigten Kletterer, die die Lust überkam, Menschenleben zu retten,
riefen uns lauthals zu. In der Regel dann, wenn wir uns zu lange an einer
schwierigen Stelle aufgehalten hatten. Petr prägte mir aber streng ein:
- Bleib
immer ganz still. Egal, was man ruft - unten hören die Leute immer nur »Hilfe!«
Mehrmals handelten wir uns böse Komplikationen dadurch ein, daß wir keine
Stirnleuchten hatten. Petrs gute Laune und sein Optimismus waren unerschöpflich
- und er machte in seinem Aktionismus auch fatale Fehler. Er verschätzte sich
zum Beispiel in der Zeit, überredete mich, nachmittags - nach dem
Lastenschleppen vom Vormittag wohlgemerkt - doch noch schnell aufzubrechen. Zum
Biwakieren nahmen wir natürlich nichts mit. Einmal wurde es wirklich knapp, ein
anderes Mal rettete uns der Mond. Zuletzt blieben wir aber tatsächlich in der
Dämmerung - und dann eben über Nacht - einfach in den Seilen hängen. Und ohne
Licht am Helm waren wir zur
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