Faktor, Jan
Ärzte unseres Vertrauens zu uns, riefen die ganze Familie
zusammen und hielten uns abwechselnd kleine Vorträge. Das Fazit: Meine
geschwächte Mutter brauche liebevolle Zuwendung, Aufregungen aller Art seien zu
vermeiden. Und sie müsse das Rauchen aufgeben. Da meine Mutter das Rauchen aber
auf keinen Fall aufgeben wollte, brach sie seit dieser »kleinen Episode« ihre
Zigaretten in zwei Hälften und rauchte immer nur halb so viel - die vordere
Zigarettenhälfte genoß sie allerdings teerreich ohne Filter.
Meine
ganze Energie war wie verflogen, ich war schwach und lustlos, fühlte mich wie
eine zerbrechliche Tonfigur - oder wie ein Reagenzglas vor einer drohenden
Implosion. Zum Sporttreiben fehlte mir jede Motivation, und ich trainierte aus
Ahnungslosigkeit auch nicht ab. Das hatte vor allem für meine Beinmuskeln
verheerende Folgen. Bald konnte ich kaum stehen, meine aufgegeilten Beine, die
in den Bergen an schwere Belastungen gewöhnt waren, taten Tag und Nacht weh.
Ich fühlte mich wie ein Invalide, in den Straßenbahnen litt ich wie ein
mißachteter Greis. Wahrscheinlich um meine innere Verfassung sichtbar zu
machen, begann ich sogar plötzlich, etwas gebückt zu laufen. Einen Sitzplatz
bot man mir in den Verkehrsmitteln trotzdem nicht an.
Da ich oft
keine Lust hatte, mich zu rasieren, gab ich es bis auf weiteres auf. So wuchs
mein Gesicht nach und nach zu, und ich sah innerhalb kurzer Zeit wie ein
anderer Mensch aus. Meine Mutter brauchte mich irgendwann nicht mehr als ihren
Rekonvaleszenzbegleiter, ich kam von ihr aber trotzdem nicht weg. Theoretisch
hätte ich wieder in die Berge gehen können - meine Schreibmaschine, meine
Kletterausrüstung, ein Teil meines Gepäcks und meine Gitarre waren immer noch
dort -, ich fühlte mich dem Leben in den Bergen aber absolut nicht gewachsen.An
manchen schönen Abenden wäre ich früher unbedingt in die Stadt gegangen, hätte
mich mit jemandem verabredet - das alles kam jetzt nicht in Frage. Alle gaben
mir sowieso direkt oder indirekt zu verstehen, daß ich zu Hause als Mann
gebraucht wurde.
- Mein
Tisch wackelt schon wieder der Abfluß - du weißt schon irgendwo unter dem
Waschbecken tropft es, ich höre das ...
Diese
etwas hysterisch vorgetragenen Bitten waren im Flur an der Tagesordnung und
inzwischen nur für mich bestimmt. Zu alledem hatte ich plötzlich keine
Vorstellung davon, wofür ich in meinem Leben sonst noch zu gebrauchen war als
für den Dienst an meiner Familie. Ich hätte meine Mutter, die tropfenden
Wasserleitungen und meine menstruierenden Tanten nur verlassen können, wenn ich
beispielsweise für eine Himalaja-Expedition geeignet gewesen wäre und man mich
in die Mannschaft geholt hätte. Das Nachdenken über meine helle Zukunft hatte
in meiner aktuellen Verfassung überhaupt keinen Sinn. Manchmal nahm ich meinen
Schlafsack und verschwand nachts im Park. Solche kurzen Befreiungsversuche
waren natürlich lächerlich. Die Gefahr, von der Polizei entdeckt oder von
freigelassenen Hunden angegriffen zu werden, war außerdem groß. Es war sowieso
schwer, einen sauberen und geschützten Schlafplatz zu finden. Im Park schlief
ich meistens nur einige Stunden und kehrte in der Morgendämmerung wieder heim.
Ich war
voller Verstockungen, erkannte mich selbst nicht wieder. Ich sprach plötzlich
furchtbar undeutlich und mehr nach innen als nach außen. Daher verstand man
mich akustisch immer schwerer. Auf der Straße wollte ich am liebsten niemandem
begegnen, und wenn ich einen Bekannten traf, brachte es außer den
artikulatorischen Qualen auch noch inhaltsbezogenen Streß mit sich. Ich mußte
in Kurzform und vor allem schlüssig - also meinem vorausgesetzten
intellektuellen Niveau entsprechend - erklären, wie es um meine weitere
Lebensplanung stand. Am besten ging es mir noch in meinem Zimmer. Dort fühlte
ich mich behütet und abgeschirmt, bekam aber auch dort Panik, wenn ich im Flur
fremde Stimmen zu hören bekam. Ich wollte keine Menschen, ich wollte nur noch
Musik hören, ich wollte stumm bleiben dürfen und in meinem Kopf Töne speichern.
Daß ich im
Zimmer meiner Großmutter wohnte, paßte mir seit meiner Rückkehr immer weniger.
Der einzige, der sich mal getraut hatte, mich wegen dieses engen Zusammenlebens
anzusprechen, war der Freund unserer Familie Ludvik Vaculik. In seiner
entwaffnenden Direktheit, für die er allgemein bekannt war, fragte er mich
einmal:
- Ist das
nicht seltsam, mit der eigenen Großmutter in einem Zimmer zu schlafen? Wie
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