Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
Vom Netzwerk:
vorzeitig
verlassen. Und tatsächlich schafften es nach gewisser Zeit auch diejenigen, die
gerissene Sehnen oder angebrochene Knochen hatten, aufzustehen und - wenn das
Training für uns alle vorbei war - sich eigenständig nach Hause zu schleppen.
    Diese Art
Aufzucht war dazu gedacht, mit der Zeit auch zarte Geister zu brutalisieren.
Wer das Härteregime nicht aushielt, mußte früher oder später einfach
desertieren. Was mich betrifft, legte ich irgendwann meine frühere
Zurückhaltung ab und war bereit, bei Bedarf doch aufs lebende Fleisch meiner
Mitmenschen einzuschlagen. Ich wollte das Training bald nicht mehr anders
haben, als es war, pflegte mich an den trainingsfreien Tagen intensiv, um
wieder regelmäßig antreten zu können. Mein Körpergefühl wurde trotz der vielen
Lädierungen insgesamt immer besser, meine Beine kamen auf meinem jüdischen
Rennrad wieder zu Kräften, und meine lahmarschige Verdauung lief wieder
reibungslos ohne Magendruck oder Darmkrämpfe ab. Zum Glück bin ich beim
regelmäßigen Entleeren aber nicht so weit gesunken, daß ich den in der Slowakei
aufgeschnappten Spruch GUTES SCHEISSEN IST HALBER BEISCHLAF für mich gelten
lassen konnte. Bei den Katas, deren Ablauf ich mir irgendwann fest eingeprägt
hatte, liebte ich besonders das befreiende Schlußgebrüll - das »KIAI«, das den
zukünftigen realen Gegner akustisch einschüchtern oder gar umhauchen sollte.
Meine KIAIs waren eine Art Karate-Orgasmen der Ersatzklasse. Die Kämpfe mochte
ich auch, nahm mich dabei aber vor den Burschen in acht, die sonst beim
Training besonders freundlich waren und dauernd lächelten. Ausgerechnet diese
Lächler verwandelten sich bei den Kämpfen in die verbissensten Schläger,
ausgerechnet in ihnen steckte der stärkste Vernichtungswille. Ihr Lächeln
verschwand in der Kampfsituation vollständig, man sah ihnen eher so etwas wie
die reine Mordlust an.
    Natürlich
träumte ich auch davon, mit meiner Handkante irgendwann dicke Ziegelsteine zu
durchschlagen. Diese Art Schläge hatten wir aber leider nicht geübt. Ich mußte
es heimlich für mich tun und drosch zu Hause mit meiner Handkante auf unsere
häßlichen Möbelstücke ein, auf alle möglichen Schränke, Kommoden, auf unsere
Tische oder auf die Wände. Die Vermöbel-Prügelfrequenz meiner zu bestrafenden
Zielobjekte steigerte sich natürlich in Abhängigkeit davon, wie häßlich die
einzelnen Prügelziele waren.
    - Was tut
er da?
    - Was
machst du, Georg, mein Lieber?
    Außerhalb
des Trainingsraumes fühlte ich mich bald unangreifbar und unverwundbar, dank
der Abwehrtechnikden Normalbürgern hochgradig überlegen - und so wollte ich
endlich auch im realen Leben zuschlagen. Das wurde uns natürlich strengstens
verboten. Um mir nicht feige vorzukommen, suchte ich mir nachts beim
Spazierengehen irgendwelche dicken großen Kerle aus. Sie sollten möglichst
größer, schwerer und stärker sein als ich. Ganze Grüppchen zu erledigen wäre
auch einem angehenden Karateka sicher möglich gewesen, das wollte ich aber erst
später in Angriff nehmen. Ich wußte, daß diese Kunst nicht nur eine Frage der
Übung war. Bei den blitzschnellen Entscheidungen über die sinnvolle Reihenfolge
der Schläge und über die Bewegungsabläufe in bezug auf den hierarchisch
einzuschätzenden Gruppengegner spielte vielmehr die Intuition eine wichtige Rolle.
In der Theorie war ich gut, für den praktischen Einsatz noch etwas
unentschlossen. Ich ging auf die ausgewählte Zielperson in irgendeiner
Nebenstraße schnell zu und achtete vor allem auf das Nichtvorhandensein von
Zeugen. Schon mein Gang und mein Blick schüchterten diese Männer furchtbar ein.
Ein Mensch, dem man sich auf eine solche entschlossene Art und Weise nähert,
weiß, daß er geschlagen werden wird.
    - Nein!
ruft er dann, was ist los, ich hab doch nichts ...
    Solche
Leute erstarren vor Schreck, und man kann sie schlagen, wohin man will. Es war
eine Art Training am lebendigen Menschensack. Wegen der oft fehlenden oder
mangelhaften Abwehr waren diese Trainingseinheiten natürlich vollkommen
wertlos.
    Mein
Musikgeschmack änderte sich in dieser Zeit rasant, ich wollte immer brutalere
Töne hören als je zuvor - und so unschöne, wie es nur ging. Zum Glück erkrachte
diese Art von Musik überall, und ich war wie elektrisiert, wenn ich üble
Geräusche, schmutzige Oberton-Derivate oder dumpfrhythmische Vibrationen zu
hören bekam. Zum Beispiel an Baustellen, wenn Stahlträger in die Erde gerammt
wurdenoder wenn

Weitere Kostenlose Bücher