Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
Vom Netzwerk:
Lagepläne
kaum miteinander überein. Bei dem letzten gemeinsamen Treffen sahen uns einige
der Frauen etwas mitleidig an. Niemand aus ihrer Verwandtschaft hatte sich vor
uns auf den Weg gemacht, in der Jüdischen Gemeinde war einmal eine Gruppenfahrt
im Gespräch gewesen, man hatte sie aber nie ernsthaft geplant.
    Wir fuhren
schweigend weiter, und meine Mutter, die nachts nur wenig schlafen konnte,
übergab mir die ganze Verantwortung und schlummerte wieder ein. Als wir zum
Grenzübergang Varnsdorf kamen, hielt ich auf der Seite einer unsinnig breiten
betonierten Fläche. Leider nicht unmittelbar vor den Grenzerhäuschen, sondern
viel zu weit abseits - vielleicht auf einem Schandplatz für ertappte
Zolldelinquenten. Ich wollte erst einmal meine Mutter wecken.in Ruhe unsere
Ausweise hervorholen und mir die Details der neuen Route einprägen. Das
umliegende Areal war gespenstisch leer. Es sah danach aus, als ob sich hier
einige Macken der kühl und planerisch denkenden Ostdeutschen ausgesamt hätten.
Was Platzangst ist - oder von mir aus agoraphobische Depression -, wußte ich
schon seit meiner ersten Überquerung des menschenleeren Alexanderplatzes an
einem Sonntag in Ostberlin. Ob unser Auto noch auf dem tschechischen oder - so
weit abseits und weit vorn - schon auf deutschem Boden stand, war unklar.
    Gerissene
Mangelwarenschmuggler hätten sich sicher nicht so auffällig verhalten wie wir,
trotzdem erregte unser unlogisch abgestelltes Auto großes Mißtrauen. Aktiv
wurde man aber nur in den deutschen Baracken; auf dieser Grenzlinie war man -
was die slawischen Eindringlinge betraf - sicher schon einiges gewohnt. Den
lethargischen Tschechen waren wir offensichtlich egal. Unser Drama konnte
beginnen. Die DDR-Uniformen mit den oben aufgeplusterten und unten engen
Breecheshosen, den hohen Schaftstiefeln, enganliegenden Jacken und
durchgebogenen Mützenböden sahen den früheren Uniformen bis auf die Farbe und
die fehlenden Hakenkreuze erstaunlich ähnlich. Aber Tradition ist Tradition,
nach dem Krieg hatte man sich für diese Ähnlichkeit offensichtlich bewußt
entschieden. Als die drei Nazi-Gestalten von zwei Seiten auf uns zukamen,
erwachte das jüdische Mädchen neben mir aus schwerer Bewußtlosigkeit. Es riß
die Augen auf, dann die Tür - und meine Mutter begann zu rennen, wie ich sie
noch nie hatte rennen sehen. Vor dreiunddreißig Jahren war sie in der gleichen
Gegend vom Todesmarsch geflüchtet, es war nur ein Stück weiter nördlich von
Varnsdorf. Jetzt lief sie dummerweise nicht irgendwelchen Befreiern, besser
gesagt der dröhnenden Front entgegen, sondern nur weg. Die auf eine derartige
Dreistigkeit nicht vorbereiteten Männer rannten ebenfalls los, hatten gegen
meine flinke Mutterallerdings keine Chance. Ihre Hosen und Stiefel sahen zwar
zünftig aus, vor allem die engen Schaftstiefel waren aber nicht
schnellauftauglich. Außerdem störte den einen seine Maschinenpistole, den
anderen seine nicht korrekt verschlossene Stempeltasche, aus der bei jedem
Sprung mehrere gelbe Karteikarten herausfielen - und der dritte Mann war
einfach zu dick. Ich erstarrte und überlegte mir ein mannhaftes deutsches Wort,
um meiner Mutter einen drohenden Schuß in den Rücken zu ersparen.
    - Halt,
stehenbleiben! brüllte ein Grenzer - preußisch streng und tierisch laut. Mein
gesamter deutscher Wortschatz war kurzzeitig wie schockgefroren. Die
militärische Diktion der Deutschen kannte man als Tscheche ausgesprochen gut -
vor allem aus Kriegsfilmen, in denen man die Deutschen mit Vergnügen auf
Deutsch brüllen ließ.
    Mit
Antikriegsfilmen wurde man als Bürger der Tschechoslowakei sowieso
kontinuierlich und mehr als großzügig versorgt. Die Nazis wurden in ihnen von
schmalgesichtigen DDR-Schauspielern gespielt, und wenn sie zwischendurch
tschechisch sprachen, sprachen sie mit einem grauenhaften Akzent. So und nicht
anders sprachen für uns einfach mustergültige Feinde - die mustergültigsten
Feinde der ganzen Menschheit. Meine Mutter und ich waren plötzlich zurück im
Krieg.
    -
Säßtafte! To je posledni farowäni! brüllte der Mann in einem unbeschreiblichen
Tschechisch. Einer der Verfolger zog tatsächlich seine Waffe und schoß in die
Luft.
    - Das
meine Mutter! brüllte ich endlich, SIE NUR SCHLAFEN!
    In dem
Moment schoß jemand von einer anderen Stelle zwei Leuchtraketen in den Himmel,
Sirenen heulten los. Und man konnte bald beurteilen, wie gut die Deutschen auf
meine Mutter vorbereitet waren. Aus irgendwelchen Buden

Weitere Kostenlose Bücher