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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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sich mit letzter Kraft noch
gerade, in den Seitenstraßen waren aber einige von ihnen schon mit gewaltigen
Balkenkonstruktionen abgefangen und gestützt worden. Abgeplatzter Putz, kaputte
Dachziegel und Splitter von Ziegelsteinen lagen dort auf den Straßen
weitgestreut herum, und die Menschen umkreisten sie - oder auch nicht. Trotzdem
galt in diesen Seitenstraßen offenbar noch keine Helmpflicht. Wenn man irgendwo
in offene Fenster der Parterrewohnungen hineinlugen konnte, herrschte dort
dagegen eine perfekt minimalistische Starre.Eine solche Diskrepanz zwischen
Innen und Außen war auf der Welt möglicherweise einmalig, dachte ich. In den
Zimmern sah es aus, wie wenn bald geschlossene Formationen apokalyptischer
Himmelsrichter ins Land einfallen sollten.
    -
Vielleicht stehen hier alle Mieter unter Dauerhypnose, sagte ich laut, ohne auf
eine Reaktion meiner Mutter zu hoffen.
    In einem
Stück von Beckett hätte eine aufsicht-habende und in einer Wandluke steckende
Frau - beispielsweise »Erstarrung-vom-Dienst« genannt - auftreten und
endlosschleifend wiederholen können: »Hast du für den Fall deines Ablebens
deinem Staat und deinen Kindern keine unnötige Entsorgungsarbeit hinterlassen?
Stimmt in deiner Wohneinheit auch die schrank- und kommodenübergreifende
Systematik beziehungsweise die Feinsortierung im Inneren deiner Schubfächer?
Hast du alle Kleider, die du nicht mehr benötigst, der Volkssolidarität
übergeben? - Hast du für den Fall deines Ablebens deinem Staat und deinen
Kindern keine unnötige Entsorgungsarbeit hinterlassen? Stimmt in deiner
Wohneinheit auch die schrank- und kommodenübergreifende Systematik...«
    Zum Glück
schickte uns jemand tatsächlich bald in Richtung einer SPEISEGASTSTÄTTE. Diese
sollte gleich am Rande der Altstadt liegen und tatsächlich warmes Essen
anzubieten haben. Unterwegs auf der Landstraße gab es mehrere Einrichtungen,
die sich ebenfalls stolz Speisegaststätten nannten. In einer, die nicht
geschlossen war, hätten wir sogar kalten Wurstaufschnitt essen können. Wir
brauchten aber unbedingt eine warme Mahlzeit. Wir näherten uns jetzt dem
Eßtempel, dieser Lausitzer Perle der Sättigungskunst. Schon das Gebäude wirkte
kurios, so etwas wie dieses Restaurant kannte ich nicht. Die Ostdeutschen
hatten nicht nur ihre standardisierten Kaufhallen aus massivem Beton gebaut,
sie hatten genauso auch ihre FRESSHALLENaus Betonplatten hoch-, besser gesagt
flachgezogen. Wir betraten eine solche Halle zum ersten Mal.
    Auf der
Straße standen einige Trabants und Wartburgs, aber nicht übertrieben viele, auf
der Treppe und im Vorraum sahen wir niemanden. Das waren wir inzwischen
gewohnt. Dann kam aber der Schock - das Innere des unendlich großen Raums war
brechend voll, trotz der fortgeschrittenen Zeit. Offenbar speisten hier alle
Menschen aus der weiten Umgebung, die sich - egal wie zeitversetzt - etwas
Gutes antun, sich an diesem Tag eben verwöhnen lassen wollten. Und die meisten
kamen eventuell aus gesundheitlichen Gründen zu Fuß. HIER WAREN SIE JETZT ALSO
ALLE - ausnahmsweise aufs Bedientwerden eingestellt, hochkonzentriert,
zentralisiert in einer echten KONZENTRATIONSGASTSTÄTTE. In weiter Ferne sah man
eine Kellnerin mit einem riesigen Tablett herumstolpern, sonst keine weiteren
Kellnerkollegen. Wir blieben kurz stehen. Alle eßwilligen Gäste saßen brav und
geduldig, massive Abspeise-Verzögerungen hatte jede Familie offenbar fest
eingeplant. Wenn es Gespräche gab, dann nur im Flüsterton. Gemessen an der
appellplatzgroßen Fläche war es in dem Raum gespenstisch still. Als wir uns
wieder in Bewegung setzen und die Schwelle der Ess-Arena überschreiten wollten,
tauchte aus einer Seitentür zufällig ein Kellner auf, hob warnend seine freie
linke Hand, riß den Mund auf - er mußte aber nicht anfangen zu schreien. Wir
zogen uns blitzschnell zurück - schon aus Angst vor möglichem
Leuchtpistolenfeuer.
    - Wir
werden sicher plaziert, das kenne ich schon, meinte meine Mutter.
    - Bekommt
man von einem so strengen Eßregime nicht gleich Verstopfung?
    Wir
standen im Rahmen der halboffenen Tür, saugten uns mit den Augen an den wenigen
vorhandenen Tellern der bereits Speisenden und auch an den leeren Tischdecken
derMasse der hungrigen Dulder fest und verstanden vieles nicht. In dem vor
Begierigkeit überquellenden Raum tat sich viel zu wenig, um auf ein Ende des
allgemeinen Wartedramas hoffen zu dürfen. Und nach einem glücklichen Ausgang
unserer Hungerfahrt sah es noch weniger

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