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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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wollte mir dieses Stück Unnatur noch einmal ansehen. Tatsächlich lag dort
keine einzige trockene Baumnadel herum. An eine der Tannen stand sogar ein
einsatzbereiter Besen gelehnt. Niemand kam auf mich zu, nichts rührte sich,
nicht einmal eine Gardine bekam Zuckungen.
    -
Vielleicht bringen sich hier die Menschen in großem Stil um, um der Welt noch
etwas mehr Ordnung zu spendieren oder für jüngere Mitmenschen Platz zu
schaffen. Und die Rentenkasse würde dadurch auch stark entlastet! Gute Genossen
sterben doch mit fünfundsechzig, nicht wahr?
    - Wie das?
Was spendieren? fragte meine Mutter unkonzentriert.
    - Oder die
Leute kasteien sich hier in Eigeninitiative - eben mit dieser Reizarmut und
Leere. Pflichtbewußt, beladen mit schlechtem Gewissen und kostengünstig
obendrein. Meine Mutter war von der Gekämmtheit des Dörfchens auch angewidert,
wollte darüber aber nicht weiter scherzen, wir fuhren weiter. Es war
Sonnabendmittag, alle aßen eventuell gerade ihr Mittagessen - und wenn sie es
momentan tatsächlich taten, taten sie es extrem pünktlich. Die DDR sah hier
jedenfalls wie nach dem Einschlag einer Neutronenbombe aus. Etwas später wirkte
diese strenggebürstete Welt aber immer noch nicht viel lebendiger. In einem
Dorf stiegen wir aus und liefen kurz herum. Die Backsteinkirche gefiel uns, der
neben ihr liegende Friedhof wirkte idyllisch.sah regelrecht einladend aus. Was
wir dort entdeckten, taugte allerdings wieder eher zum Gruseln. Auf dem Gelände
tobte offenbar ein tödlicher Konkurrenzkampf - und es mußte tatsächlich ein
knochenharter Wettbewerb sein, der dort ausgetragen wurde. Ein Grab war schöner
und abgezirkelter als das andere, ordentliche Bepflanzung überall, ich konnte
keine Unregelmäßigkeiten entdecken, kein Grashalm sproß dort, wo er nicht
wachsen sollte. Pflänzchen, die man als UNKRAUT bezeichnen könnte, gab es auch
im weiten Umkreis der Gräber nicht. Auf den Wegen zwischen den Gräbern sah man
nicht einmal Schuhabdrücke - auch der pflanzentote Hauptweg, auf dem wir
liefen, war frisch geharkt. Wir hinterließen eine schändliche Doppelspur.
    - Diese
Wege sehen aus wie Todesstreifen, oder? Und wir sind hier schon wieder die
Grenzverletzer - heute zum zweiten Mal.
    Jeder
Winkel des Friedhofs wirkte wie geleckt, bis in die letzte Ecke war nichts
unberührt gelassen worden. Und nach dem Beenden der verbissen-agilen
Vernichtungspflege mußten die Menschen ihre Harken hinter sich her gezogen haben.
Und wie gerade! Sie schlenderten dabei nicht einmal, keine zufällige Abweichung
war zu sehen. Aber auch alle vegetationslosen Zwischenräume auf den Gräbern
selbst waren ohne jegliche Ausgelassenheit beharkt worden - bei ihrer
geometrischen Schraffierung hatte man sogar noch strenger auf Parallelität
geachtet als auf den Wegen. Nur um die Krümmungen sah man eine mit ruhiger Hand
geführte, der Rundung folgende Harkenspur. Da und dort gab es sogar
Kratzmuster, die über Kreuz geführt worden waren. Mein Favoritgrab wies ein
Rhomboidmuster auf. Das war eindeutig das Werk des ortsbesten Großmeisters,
also des feingeistigsten Todesästheten unter den Entropiegeilen.
    - Stell
dir vor, sagte ich, Sartre und Camus treffen sich hier in der ostdeutschen
Provinz und philosophieren überdas Leben, den Tod und die Hölle. Wäre das ein
Theaterstück!
    - Sicher
großartig - nur total langweilig, meinte meine Mutter.
    Wir fuhren
weiter und bekamen langsam Hunger. Wir kannten Ostberlin ein wenig, wir kannten
außerdem noch die Ostsseeküste. Mit dem Essengehen war es in Ostdeutschland nie
ganz einfach, daß es aber so weit kommen könnte, daß man gar nichts zu essen
bekäme, wußten wir nicht. Meine Mutter fragte einen Mann aus dem Auto heraus -
er sah uns von Anfang an wie zwei Volltrottel an.
    - Essen?
Hier kann man nicht essen. Die Kneipe macht erst um fünf auf.
    - Und gibt
es wenigstens dann etwas zu essen?
    -
Bockwurst haben die sicher. Vielleicht auch Sülze? Ich weiß es nicht. Wir
fuhren weiter, um es woanders zu versuchen.
    - Hast du
etwas verstanden? fragte ich meine Mutter.
    - Ja. Zum
Glück war das kein Sächsisch.
    In Görlitz
kamen wir schließlich völlig ausgehungert an. Langsam war es eventuell zu spät
zum Einkehren, hatten wir das Gefühl - bei der hier tickenden Strenge. Die Stadt
war in einem fürchterlichen Zerfallszustand. Im Krieg war sie, wie man sah,
zwar verschont geblieben, die sozialistische Zerstörungsfront war hier aber
längst durchgezogen. Viele der Häuser hielten

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