Falken: Roman (German Edition)
vor. Am Ende war er sein eigener Mörder. Er schrieb und schrieb, redete und redete, und dann plötzlich nahm er sich selbst aus dem Spiel. Wenn je ein Mann nahe daran war, sich selbst zu enthaupten, war es Thomas More.
Die Königin trägt Purpur und Schwarz und anstelle einer Kapuze eine gelbliche Haube mit schwarz-weißen, über die Krempe hinausragenden Federn. Präge dir diese Federn ein, sagt er sich. Es ist das letzte Mal, oder doch fast. Wie hat sie ausgesehen, werden die Frauen fragen. Und er wird ihnen antworten können: Sie war blass, aber ohne Furcht. Wie muss es für sie sein, in diesen Saal zu treten, vor dem Hochadel Englands zu stehen, nur Männern, und keiner von ihnen begehrt sie? Sie ist befleckt, sie ist totes Fleisch, und statt sie anzustarren – Brüste, Haar und Augen –, wenden sie den Blick ab. Nur Onkel Norfolk betrachtet sie eindringlich: als wäre ihr Kopf nicht Medusas Kopf.
Mitten in der großen Halle des Towers haben sie eine Plattform mit Bänken für Richter und Adel gebaut, und auch seitlich in den Säulengängen gibt es ein paar Bänke, aber der Großteil der Zuschauer wird stehen und herandrängen, bis die Wachen ihnen Einhalt gebieten: »Nicht weiter«, und die Durchgänge mit Knüppeln blockieren. Selbst dann drängen sie noch, und der Lärm wird größer, weil die, die durchgelassen wurden, nicht aufhören wollen zu stoßen und zu schieben, bis Norfolk mit seinem weißen Stab in der Hand ruft, sie sollen ruhig sein, und der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht auch noch dem Dümmsten im Gewühl sagt, dass er es ernst meint.
Dort sitzt der Lordkanzler, neben dem Herzog, um ihn mit dem besten rechtlichen Rat des Königreichs zu versorgen, dort der Earl of Worcester, dessen Frau, wie man sagen könnte, das alles losgetreten hat, und der Earl schenkt ihm einen bösen Blick, ohne dass er wüsste, warum. Er sieht Charles Brandon, den Herzog von Suffolk, der Anne von allem Anbeginn an gehasst und es offen vorm König gezeigt hat, sieht den Earl von Arundel, den Earl of Oxford, den Earl of Rutland, den Earl of Westmorland: Leise bewegt er sich unter ihnen, der brave Thomas Cromwell, grüßt hier und sagt dort ein paar Worte. Er verbreitet Sicherheit: Die Anklage der Krone ist in Ordnung, Überraschungen werden nicht erwartet oder geduldet, zum Abendessen sind wir zu Hause und schlafen heute Nacht sicher in unseren Betten. Lord Sandys, Lord Audley, Lord Clinton und viele weitere Lords, alle werden auf einer Liste abgehakt, als sie ihre Plätze einnehmen. Lord Morley, George Boleyns Schwiegervater, greift nach seiner Hand und sagt: Bitte, Thomas Cromwell, da Sie mich lieben, lassen Sie diese schäbige Geschichte nicht auf meine arme kleine Tochter Jane zurückfallen.
Als du sie, ohne sie zu fragen, verheiratet hast, denkt er, war sie nicht so sehr deine arme kleine Tochter. Aber das ist normal, man kann ihm als Vater keinen Vorwurf machen, denn wie der König einmal reumütig sagte, sind nur sehr arme Männer und Frauen frei, sich auszusuchen, wen sie lieben. Er fasst Lord Morleys Hand, wünscht ihm Mut und bittet ihn, seinen Platz einzunehmen, denn die Gefangene ist da und das Gericht bereit.
Er verbeugt sich vor den ausländischen Botschaftern, doch wo ist Chapuys? Die Nachricht gelangt zu ihm, dass Chapuys an einem viertägigen Fieber leidet: Die Antwort geht zurück, es tut mir leid, das zu hören, er soll in meinem Haus um alles bitten, was ihm die Sache erleichtern kann. Sagen wir, es hat heute angefangen, Tag eins, dann ebbt es morgen ab, und am Mittwoch ist er wieder auf den Füßen, wenn auch wackelig, doch schon am Donnerstagabend liegt er erneut darnieder, zitternd und schwitzend.
Der Kronanwalt liest die Anklage vor, was eine Weile dauert: Verbrechen gegen die Gesetze, Verbrechen gegen Gott. Als er, Cromwell, aufsteht, um fortzufahren, denkt er, der König erwartet das Urteil am Nachmittag, lässt den Blick über die Versammlung gleiten und sieht Francis Bryan, im Mantel und bereit, den Fluss hinaufzufahren und den Seymours das Ergebnis zu überbringen. Ganz ruhig, Francis, denkt er, es könnte etwas dauern, und hier drinnen könnte es heiß werden.
In der Sache braucht der Fall eine oder zwei Stunden, doch wenn es fünfundneunzig Namen zu überprüfen gilt, von Gericht und Jury, reicht schon das bloße Stühlerücken und Räuspern, das Naseputzen, das Zurechtziehen von Roben und Schärpen – all diese ablenkenden Rituale, die einige Männer brauchen, bevor sie
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