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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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öffentlich sprechen –, um den Tag um einiges weiter voranzutreiben. Die Königin selbst verhält sich ruhig, sitzt auf ihrem Stuhl und hört aufmerksam zu, als die Liste ihrer Verbrechen vorgelesen wird, der schwindelerregende Katalog von Uhrzeiten, Tagen und Orten, Männern, Genitalien und Zungen: in den Mund, aus dem Mund, hinein in verschiedene Spalten und Öffnungen des Körpers, in Hampton Court und Richmond Palace, in Greenwich und Westminster, in Middlesex und in Kent; und dann die losen Bemerkungen und der Spott, die eifersüchtigen Streitereien und die verdrehten Absichten, die Erklärungen der Königin, dass sie sich, wenn ihr Mann tot ist, einen von ihnen aussuchen will, aber sie kann nicht sagen, wen. »Haben Sie das gesagt?« Sie schüttelt den Kopf. »Sie müssen laut antworten.«
    Ihre eisige, leise Stimme: »Nein.«
    Das ist alles, was sie sagt, Nein, nein und nochmals nein – einmal sagt sie: »Ja«, als sie gefragt wird, ob sie Weston Geld gegeben hat. Sie zögert und gibt es zu. Ein Aufschrei geht durch die Menge, und Norfolk unterbricht den Prozess und droht damit, das Publikum einsperren zu lassen, wenn es keine Ruhe bewahrt. In jedem wohlgeordneten Land, meinte Suffolk gestern, würde ein Prozess gegen eine Adelige in geziemender Abgeschlossenheit durchgeführt werden. Worauf er die Augen verdrehte und sagte: Aber, Mylord, wir sind hier in England.
    Norfolk ist es gelungen, dass Ruhe eingekehrt ist, eine raschelnde Ruhe, nur von Husten und Flüstern unterbrochen. Er ist bereit, die Verhandlung fortzusetzen, und sagt: »Sehr gut, machen Sie weiter, äh … Sie.« Nicht zum ersten Mal verwirrt es ihn, zu einem einfachen Bürger sprechen zu müssen, der kein Stallknecht oder Kutscher ist, sondern ein Minister des Königs: Der Lordkanzler beugt sich flüsternd vor und erinnert ihn womöglich daran, dass der Ankläger der Master of the Rolls ist. »Fahren Sie fort, Ihre Mastership«, sagt Norfolk jetzt höflicher. »Ich bitte Sie, fortzufahren.«
    Sie leugnet den Hochverrat, und das Wichtige: Nie hebt sie die Stimme, zudem verschmäht sie es, Dinge auszuführen, zu entschuldigen, abzumildern – zu entschärfen. Und es ist auch niemand da, der es für sie täte. Er denkt daran, wie Wyatts alter Vater ihm einst erklärt hat, dass dich eine sterbende Löwin zerfleischen, mit ihren Krallen aufschlitzen und fürs Leben zeichnen kann. Aber er fühlt keine Bedrohung, keine Spannung, ganz und gar nichts. Er ist ein guter Redner, bekannt für seine Eloquenz, für seinen Stil und seine Ehrbarkeit, aber heute interessiert es ihn nicht, ob ihn außer den Richtern, der Jury und den Angeklagten jemand versteht und ob die anwesende Menge missdeutet, was sie hört: Und so scheint seine Stimme zu einem schläfrigen Murmeln zu verbleichen, wie die Stimme eines Landpfarrers, der seine Gebete herunterleiert, nicht lauter als eine Fliege, die vor dem Fenster herumschwirrt und gegen das Glas schlägt. Aus dem Augenwinkel sieht er den Kronanwalt ein Gähnen unterdrücken und denkt, ich habe getan, wovon ich glaubte, es niemals zu können: Ich habe Ehebruch, Inzest, Verschwörung und Hochverrat zu etwas Alltäglichem gemacht. Wir brauchen keine falsche Aufregung. Schließlich ist das hier ein Gericht und kein römischer Zirkus.
    Die Urteile schleppen sich dahin: Es ist eine langwierige Geschichte, das Gericht bittet um Kürze, keine Reden bitte, ein Wort genügt: Fünfundneunzig Prozent stimmen für schuldig, und nicht einer widerspricht. Als Norfolk das Urteil zu verlesen beginnt, brausen erneut Schreie auf, und man kann spüren, wie die Leute von draußen hereinzudrängen versuchen. Die Halle scheint sich leicht zu wiegen, wie ein am Anleger vertäutes Schiff. »Ihr eigener Onkel!«, klagt jemand, und der Herzog schlägt mit der Faust auf den Tisch und sagt, er wird alle hinmetzeln lassen. Das schafft etwas Ruhe, das Zischen erlaubt es ihm, fortzufahren: »… Ihr Urteil ist dieses: Sie soll hier verbrannt werden, hier im Tower, oder ihr Kopf soll ihr abgeschlagen werden, je nachdem, wie der König geruht …«
    Einer der Richter jault auf. Der Mann beugt sich vor und flüstert wütend leise Worte. Norfolk scheint erzürnt, die Anwälte stecken die Köpfe zusammen, und die Jury reckt die Hälse, um herauszufinden, was der Grund für die Verzögerung ist. Er geht hinüber. Norfolk sagt: »Diese Kerle sagen mir, ich habe es nicht richtig gemacht, ich darf nicht ›verbrennen oder enthaupten‹ sagen, ich muss mich

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