Falken: Roman (German Edition)
zurücksinken lässt. Er weiß, wie schöne Anklagen aussehen, sie sind ohne ein überflüssiges Wort. Diese waren es nicht: die Sätze gedrängt und gewunden, gezwungen und übervoll, hässlich in Inhalt und Form. Der Plan gegen Anne ist unheilig herangereift, wurde zu früh geboren, eine formlose Masse Gewebe, ohne Gestalt, die wie ein kleiner Bär von seiner Mutter hätte glattgeleckt werden können. Du hast diesen Plan genährt, ohne zu wissen, mit welchem Futter: Wer hätte gedacht, dass Mark ein Geständnis ablegen oder Anne sich in jeder Hinsicht wie eine schuldige Frau verhalten würde, die unter der Last der Sünde ächzt? Es ist so, wie es die Männer heute vor Gericht gesagt haben: Wir sind aller möglichen Vergehen schuldig, wir haben gesündigt, sind schlecht und voller Verfehlungen, doch selbst Kirche und Evangelium können uns nicht erklären, worin genau sie bestehen. Aus dem Vatikan, wo die Sündenkenner sitzen, wird verlautet, dass jedes Freundschaftsangebot, jede versöhnliche Geste Henrys in dieser schwierigen Zeit wohlwollend aufgenommen würde, denn wer immer auch überrascht sein mag, in Rom sind sie nicht überrascht über die Wendung der Dinge. In Rom würde das alles nicht weiter auffallen: Über Ehebruch und Inzest zuckt man dort höchstens mit den Schultern. Als er im Vatikan war, zu Kardinal Bainbridges Zeiten, erkannte er schnell, dass niemand dort je etwas durchschaute, zuallerletzt der Papst. Intrigen leben aus sich heraus, Verschwörungen haben weder Mutter noch Vater, und doch gedeihen sie: Das Einzige, was man wissen muss, ist, dass niemand etwas weiß.
Obwohl in Rom, denkt er, auch kaum der Anspruch erhoben wird, gesetzlichen Abläufen zu folgen. Missetäter werden im Gefängnis vergessen und verhungern, oder die Wärter schlagen sie tot, worauf sie in einen Sack gesteckt, in den Fluss gerollt oder getreten und mit Abfall und Abwässern Richtung Meer geschwemmt werden.
Er schaut auf. Gregory sitzt respektvoll da und will seine Gedanken nicht stören, fragt jetzt aber: »Wann werden sie sterben?«
»Morgen geht es noch nicht, sie brauchen Zeit, um ihre Dinge zu regeln. Und am Montag wird die Königin im Tower vor Gericht gestellt, es muss also danach sein, Kingston kann nicht … Das Gericht wird öffentlich tagen, verstehst du, da ist der Tower voller Leute …« Er stellt sich das ungebührliche Gedränge vor, durch das sich die verurteilten Männer zum Schafott vorkämpfen müssten, weil alle die Königin vor Gericht sehen wollen.
»Aber Sie gehen hin und sehen es sich an?«, setzt Gregory noch einmal nach. »Wenn es so weit ist? Ich könnte die Männer auf ihrem letzten Weg begleiten und ihnen meinen Respekt und meine Gebete anbieten, aber das geht nicht, wenn Sie nicht da sind. Ich könnte zusammenbrechen.«
Er nickt. Es ist gut, in diesen Dingen realistisch zu sein. In seiner Jugend hat er die schlimmsten Rabauken angeben hören, was sie alles ertrügen, und dann wurden sie angesichts eines aufgeschnittenen Fingers bleich. Und einer Hinrichtung beizuwohnen, ist sowieso etwas anderes, als in einen Kampf verwickelt zu werden: Bei einer Hinrichtung herrscht Angst, und Angst ist ansteckend, wohingegen in einem Kampf keine Zeit für Angst ist, bis er vorbei ist und die Beine zu zittern beginnen. »Wenn ich nicht da bin, dann Richard. Es ist ein schöner Gedanke, und auch wenn es nicht einfach für dich wäre, würde es doch deinen Respekt zeigen.« Er kann nicht sagen, wie die nächste Woche aussehen wird. »Es hängt davon ab … Die Annullierung muss durchgehen, es liegt bei der Königin, wie sie uns hilft und ob sie ihre Zustimmung gibt.« Er denkt laut: »Ich könnte mit Cranmer in Lambeth sein. Und bitte, mein lieber Sohn, frage mich nicht, warum diese Annullierung sein muss. Es reicht zu wissen, dass der König sie will.«
Er stellt fest, dass seine Gedanken nicht bei den sterbenden Männern bleiben wollen. Stattdessen drängt sich immer wieder das regenverhangene Bild Mores auf dem Schafott in den Vordergrund, gesehen durch den Regenschleier: wie Mores bereits toter Körper nach dem Auftreffen der Axt zurückschlägt. Als der Kardinal fiel, hatte er keinen unnachgiebigeren Verfolger als Thomas More. Und doch, denkt er, habe ich ihn nicht gehasst. Ich habe getan, was ich konnte, habe ihn mit allen Mitteln zu überreden versucht, sich mit dem König zu versöhnen, und dachte, ich würde es schaffen, denn er hing an der Welt, hing an seinem Leben und hatte noch einiges
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