Falken: Roman (German Edition)
bei den anderen sein.«
»Ich habe gehört, dass Sie bei Hofe waren, Sir. Ich dachte, vielleicht sind Briefe zu schreiben.«
»Gehe die hier durch, aber nicht mehr heute Abend.« Er reicht ihm ein Bündel Papiere mit Bewilligungen. »Brandon bekommt diesmal vielleicht nicht so viele Neujahrsgeschenke.« Er erzählt Rafe, was geschehen ist: vom Ausbruch Suffolks und Chapuys’ staunendem Gesicht. Er erzählt ihm nicht, dass Suffolk gesagt hat, er tauge nicht dazu, mit den Geschäften der über ihm Stehenden befasst zu werden. Er schüttelt den Kopf und sagt: »Charles Brandon, ich habe ihn heute genau angesehen … Du weißt, dass er immer als gut aussehender Bursche gepriesen wurde? Sogar die Schwester des Königs hat sich in ihn verliebt. Aber jetzt, mit diesem dicken, breiten Gesicht … damit hat er nicht mehr Grazie als eine Fettpfanne.«
Rafe zieht sich einen niedrigen Hocker heran und setzt sich nachdenklich an den Tisch. Er legt die Unterarme auf die Tischplatte und bettet den Kopf darauf. Beide sind die stumme Gesellschaft des anderen gewöhnt. Er zieht eine Kerze näher heran, studiert ein paar weitere Unterlagen und macht hier und da eine Notiz an den Rand. Das Gesicht des Königs steigt vor ihm auf: nicht, wie er heute war, sondern das Bild Henrys in Wolf Hall, wie er aus dem Garten kommt, mit benommenem Ausdruck, Regentropfen auf der Jacke, den blassen Kreis von Jane Seymours Gesicht neben sich.
Nach einer Weile wirft er Rafe einen Blick zu. »Ist unten alles in Ordnung, junger Mann?«
Rafe sagt: »Dieses Haus riecht immer nach Äpfeln.«
Es stimmt. Great Place liegt zwischen Obstgärten, und auf seinem Dachboden, wo das Obst aufbewahrt wird, scheint der Sommer zu verweilen. In Austin Friars ist der Garten kahl, junge Bäume werden von Stangen gehalten. Aber das hier ist ein altes Haus. Es war früher nicht mehr als ein Cottage, bis Sir Henry Colet, der gelehrte Dekan von St. Paul’s, es sich für seinen Gebrauch hat ausbauen lassen. Nach Sir Henrys Tod hat Lady Christian ihre letzten Tage hier verbracht, anschließend ging das Haus gemäß Sir Henrys letztem Willen in den Besitz der Stoffhändler-Gilde über. Er, Cromwell, hat einen fünfzigjährigen Pachtvertrag, der von ihm auf Gregory übertragen werden soll. Gregorys Kinder können im Duft von Backwerk, von Honig und geschnittenen Äpfeln, Rosinen und Nelken aufwachsen. Er sagt: »Rafe, ich muss Gregory verheiraten.«
»Ich mache einen Vermerk«, sagt Rafe und lacht.
Vor einem Jahr konnte Rafe nicht lachen. Thomas, sein erstes Kind, überlebte seine Taufe nur um einen Tag oder zwei. Rafe nahm es wie ein Christ, doch der Tod ernüchterte den sowieso schon nüchternen jungen Mann noch mehr. Helen hatte bereits Kinder von ihrem ersten Mann, nie eines verloren und kam nur schlecht damit zurecht. Doch noch in diesem Jahr, nach langen, schweren Wehen, die ihr Angst machten, ist sie mit einem weiteren Sohn niedergekommen, und sie haben ihn erneut Thomas genannt. Möge es ihm mehr Glück bringen als seinem Bruder. Bei allem Widerwillen, mit dem er ans Licht der Welt kam, scheint der Junge stark zu sein, und Rafe hat die ersten Vaterängste abgelegt.
»Sir«, sagt Rafe. »Was ich fragen wollte: Ist das Ihr neuer Hut?«
»Nein«, sagt er ernst. »Es ist der Hut des Botschafters Spaniens und des Kaiserreichs. Möchtest du ihn mal aufsetzen?«
Von der Tür dringt Lärm herüber. Es ist Christophe. Er kann nicht auf normale Weise eintreten, er behandelt die Tür wie seinen Feind. Sein Gesicht ist noch schwarz vom Feuer. »Da ist eine Frau für Sie, Sir. Sehr dringend. Sie lässt sich nicht abweisen.«
»Was für eine Frau?«
»Ziemlich alt. Aber nicht so alt, dass Sie die Gute die Treppe hinunterwerfen würden, nicht in einer kalten Nacht wie dieser.«
»Oh, schäme dich«, sagt er. »Gehe und wasche dein Gesicht, Christophe.« Er wendet sich an Rafe. »Eine unbekannte Frau. Bin ich voller Tinte?«
»Es geht so.«
In der großen Diele wartet eine Lady im Schein der Wandleuchten auf ihn. Sie hebt den Schleier und spricht ihn auf Kastilisch an: Maria, Lady Willoughby, einstmals Maria de Salinas. Er ist entgeistert: Wie ist das möglich?, fragt er. Ist sie um diese Zeit allein aus ihrem Haus in London hergekommen, durch den Schnee?
Sie schneidet ihm das Wort ab. »Ich komme voller Verzweiflung zu Ihnen. Ich kann den König nicht erreichen. Es gibt keine Zeit zu verlieren. Ich brauche einen Passierschein. Sie müssen mir ein Papier geben. Oder
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