Falken: Roman (German Edition)
und hält jenseits der schmalen See Augen und Ohren offen. Nichts geschieht bei den flämischen Händlern oder den Gilden in Calais, wovon Stephen nicht erfährt und worüber er nicht berichtet. »Ich muss schon sagen, Master Sekretär, Sie führen einen ungeordneten Haushalt. Man könnte auch gleich auf freiem Feld zu Abend essen.«
»Sie sind auf freiem Feld«, sagt er. »Mehr oder weniger. Oder werden es bald sein. Sie müssen aufbrechen.«
»Aber ich komme gerade erst vom Schiff!«
So bekundet Stephen seine Freundschaft: mit ständigen Beschwerden, Nörgeleien und Gemecker. Er dreht sich um und gibt Befehle: Gebt Vaughn zu essen, gebt Vaughn zu trinken, bereitet ein Bett für Vaughn und sorgt dafür, dass bei Sonnenaufgang ein gutes Pferd für ihn bereitsteht. »Beruhigen Sie sich, Sie können hier schlafen, aber morgen früh eskortieren Sie Chapuys nach Kimbolton. Sie sprechen die Sprachen, Stephen! Nicht ein Wort Französisch, Spanisch oder Latein darf gesprochen werden, von dem ich nicht erfahre.«
»Ich verstehe.« Stephen wirkt konzentriert.
»Weil ich denke, wenn Katherine stirbt, wird Mary verzweifelt versuchen, mit dem Schiff auf kaiserliches Gebiet zu gelangen. Schließlich ist er ihr Cousin, und wenn wir auch wissen, dass sie ihm nicht trauen sollte, wird sie selbst das anders sehen. Und wir können sie kaum in Ketten legen.«
»Behalten Sie Mary im Landesinneren. Behalten Sie sie an einem Ort, wo mit zwei Tagesritten kein Seehafen zu erreichen ist.«
»Wenn Chapuys es für einen möglichen Fluchtweg hielte, ließe sie sich vom Wind davontragen und stäche mit einem Sieb in See.«
»Thomas.« Vaughn, ein ernster Mann, legt ihm die Hand auf den Arm. »Was hat diese Aufregung zu bedeuten? Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Haben Sie Angst, von einem kleinen Mädchen geschlagen zu werden?«
Er würde Vaughn gern berichten, was geschehen ist, doch wie soll er ihm die Feinheiten vermitteln: die Glätte von Henrys Lügen, Brandons Masse, als er ihn vom König weggeschoben, weggezogen, weggezwungen hat, die raue Nässe des Windes auf seinem Gesicht, den Geschmack von Blut im Mund. So wird es immer sein, denkt er. So wird es weitergehen. Durch Fastenzeit und Pfingstzeit, im nächsten Advent. »Hören Sie«, seufzt er. »Ich muss gehen und Stephen Gardiner in Frankreich schreiben. Wenn das jetzt das Ende von Katherine ist, muss ich dafür sorgen, dass er es von mir erfährt.«
»Keine Katzbuckelei mehr vor den Franzosen für unsere Rettung«, sagt Stephen. Ist das ein Grinsen? Es ist ein wölfisches. Stephen ist Kaufmann, er schätzt den Handel mit den Niederlanden. Wenn die Beziehungen zum Kaiser zerbrechen, hat England bald kein Geld mehr. Wenn der Kaiser auf unserer Seite ist, werden wir reich. »Endlich können wir alle Streitpunkte beilegen«, sagt Stephen. »Katherine war der Grund hinter allem. Ihr Neffe wird so erleichtert sein wie wir. Er wollte nie bei uns einmarschieren, und mit Mailand hat er genug zu tun. Soll er sich doch mit den Franzosen in die Haare geraten, wenn es denn sein muss. Unser König wird frei sein. Frei zu tun, was er will.«
Genau das macht mir Sorgen, denkt er. Dass Henry freie Hand haben wird. Er will sich entschuldigen, aber Vaughn schüttelt den Kopf. »Thomas, Sie richten sich zugrunde, wenn Sie dieses Tempo beibehalten. Denken Sie je darüber nach, dass die Hälfte Ihrer Jahre vorüber ist?«
»Die Hälfte? Stephen, ich bin fünfzig.«
»Ich vergesse es immer wieder.« Ein kleines Lachen. »Schon fünfzig? Seit ich Sie kenne, haben Sie sich kaum verändert.«
»Da täuschen Sie sich«, sagt er. »Aber ich verspreche, ich ruhe mich aus, sobald Sie es tun.«
In seinem Zimmer ist es warm. Er schließt die Fensterläden und sperrt das weiße Gleißen aus. Er setzt sich, um Gardiner zu schreiben und ihn zu loben. Der König ist sehr zufrieden mit Gardiners Mission in Frankreich, er schickt Geld.
Er legt die Feder zur Seite. Was ist nur in Brandon gefahren? Er weiß, es gibt Gerüchte, dass Annes Kind nicht von Henry ist. Es gibt auch Gerüchte, dass sie gar nicht schwanger ist, sondern nur so tut. Und es stimmt, dass sie äußerst unsicher scheint, wann es zur Welt kommen wird. Aber er hatte gedacht, diese Gerüchte würden von Frankreich nach England geweht, und was wollen sie am französischen Hof schon wissen? Er hat sie als bloße Bosheit abgetan. Anne zieht solche Dinge an. Das ist ihr Unglück, oder doch eines von ihnen.
Unter seiner Hand liegt ein Brief aus
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