Falkengrund Nr. 29
der Stimme einer Frau, die keine Lust verspürte, lange Erklärungen an Laien abzugeben, es aber trotzdem tun musste, da der Laie sie bezahlte. „Der Kühlungsprozess wird in den nächsten Tagen in mehreren Stufen fortgesetzt, bis die Temperatur minus 191 Grad erreicht. An diesem Punkt sind nicht nur keine Lebensaktivitäten mehr möglich – auch die chemischen Prozesse dürfen als gestoppt gelten. Die Nerven können nichts mehr weitergeben. Der Körper wird bei dieser Temperatur auch nicht verfallen. Theoretisch könnte er Tausende von Jahren auf seine Erweckung warten. Wir glauben aber nicht, dass das nötig sein wird. Möchten Sie sonst noch etwas wissen?“ Die Augen der Ärztin fragten anklagend: Haben Sie die Prospekte nicht gelesen?
Also stellte Yuki Maeda keine Fragen mehr.
Sie drehte sich von der Röhre weg, die den Körper ihres Vaters aufgenommen hatte, und sofort stand jemand neben ihr, der sie bereitwillig nach oben eskortierte. Sie verzichtete darauf zuzusehen, wie man den Behälter in die Tiefe ließ, in das Stockwerk, das noch unter diesem lag, dorthin, wo die anderen acht Toten ruhten.
Patienten, wie man sie beim FCC nannte.
Die folgenden Wochen und Monate waren eine bizarre Zeit. Die Trauer um ihren Vater stellte sich nicht ein. So wenig sie daran glauben wollte, dass der Mann, der sie großgezogen hatte, eines Tages wieder über diese Erde gehen würde – die Professionalität, mit der man seinen Leib im FCC versorgt hatte, gab ihr dennoch das Gefühl, er habe tatsächlich eine medizinische Behandlung erfahren und sei nicht wirklich tot, sondern nur bewegungslos, wie jemand, der in einem Koma lag. Er hatte sich nicht aus ihrem Leben verabschiedet, war nur vorübergehend nicht anwesend.
Wenn sie in den Spiegel sah, erwartete sie, ihn hinter sich auftauchen zu sehen. Wenn sie ihre Mutter besuchte, rechnete sie damit, dass er mitten im Gespräch ins Zimmer kam, seine Glieder reckte, bis sie knackten, und dann gähnend sagte: „Mann, hab’ ich tief geschlafen!“
Es dauerte ein Jahr, ehe sie einigermaßen damit abgeschlossen hatte. Nun gab es nur noch den Termin, diesen besonderen Tag, fünf Jahre nach seinem Tod, an dem sie seinen Körper wiedersehen würde.
Dieses Datum war heute.
Vater war Fotoreporter gewesen, ehe ihn seine Herzerkrankung in den Frühruhestand zwang. In seinem Vertrag mit dem FCC hatte er eine Klausel einfügen lassen. Fünf Jahre nach seinem Tod würde seine Tochter das Cryonics Center aufsuchen, bewaffnet mit einer Kamera, mit seiner Kamera. Man würde den Behälter mit seinem Körper aus der eisigen Gruft holen und öffnen, so dass sein Leichnam, nein, sein Körper zu sehen war. Dann würde seine Tochter in aller Ruhe ein paar Aufnahmen machen. Die Shûkan Shinchô, das Wochenblatt, für das er vorwiegend gearbeitet hatte, würde die Bilder bringen. Die Leser würden sehen, wie der Mann, dessen Fotos sie viele Jahre lang begleitet hatten, nach fünf Jahren Kälteschlaf aussah.
Die Bilder würden einen Eindruck hinterlassen, selbst wenn auf ihnen nicht viel zu erkennen sein sollte. Sie würden sich besser einprägen als ausführliche, penibel recherchierte Artikel. So war es immer. Die Leute lasen die Texte, diskutierten sogar darüber, aber Jahre später erinnerten sie sich nur noch an die Bilder.
Ihr Vater wünschte, dass in der Öffentlichkeit eine Auseinandersetzung mit dem Thema stattfand. Ihm ging es nicht nur um sein persönliches Schicksal – er wollte die Menschen aufrütteln.
Das FCC hatte sich zunächst gegen die Klausel im Vertrag gewehrt. Es sei nicht der Stil des Centers, die ruhenden Patienten ins Scheinwerferlicht zu rücken. Man befürchtete, das Unternehmen könne in eine falsche Ecke gedrängt werden.
Dann hatte man doch noch zugestimmt. Ob man sich einverstanden erklärte, weil man letztlich doch die Publicity anstrebte oder weil man sich den gut zahlenden Kunden nicht entgehen lassen wollte, wusste Yuki nicht. Vater war ein dicker Fisch gewesen. Er hatte nahezu sein gesamtes Vermögen der FCC überlassen. Yuki, der unter normalen Umständen ein stattliches Erbe zuteil geworden wäre, ging leer aus. Das Geld, das ihr ihrer Meinung nach zustand, hatte diese Firma dafür erhalten, dass sie ihrem Vater einen törichten Traum verkaufte. Einen, der sich nie erfüllen würde.
Mutter hatte Vater einmal einen Feigling genannt. Was er in seinem Leben an materiellen Gütern erarbeitet hatte, gab er für diese Vision von der Heilung in ferner Zukunft
Weitere Kostenlose Bücher