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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Lichtschranke, bis sie jemand energisch von der Tür wegzog. Es ging ein Stockwerk nach unten in einen riesigen, ovalen, kalten Raum, eine perverse Mischung aus Operationssaal und Chemielabor. Sie stellte diesen Ort in Gedanken neben die Leichenhallen, Krematorien und Friedhofe, die sie gesehen hatte. Und fand ihn im Vergleich dazu hässlich. Nichts Pietätvolles haftete ihm an, keine Spur von der Verheißung eines späteren Lebens. Das Licht war pulvrig weiß und sezierend, kam von allen Seiten, sogar von unten, als stünden sie auf einem gewaltigen glühenden Gletscher.
    Die Schränke spuckten jede Sekunde neue, nach Gummi stinkende Schläuche und Kabel aus. Anscheinend wollte man das Rest Leben, das noch in seinen Zellen war, irgendwohin saugen, wo man bessere Verwendung dafür hatte. Danach klang auch die Geräuschkulisse – ein nahezu organisches, lebendiges Saugen, allgegenwärtig und schmatzend. Es machte einem umso mehr Angst, je länger es andauerte. Es schien mit der Zeit stärker zu werden. Gieriger.
    Man hatte ihr das alles erklärt. Ihr Vater selbst hatte ihr die wichtigsten Leitsätze bei jedem Besuch vorgebetet, wie ein Mantra. Dass der klinische und juristische Tod etwas anderes sei als der wirkliche Tod. Dass die Zellen nicht sofort starben, wenn das Herz zu schlagen aufhörte. Dass der Körper nach dem Herzstillstand nur allmählich Schaden nahm, und dass erst Schäden, die nach mehreren Stunden entstanden, irreparabel sein würden. Kleinere Defekte würde die Medizin der Zukunft mit höchster Wahrscheinlichkeit beheben können.
    Yuki stand der ganzen Sache skeptisch gegenüber. Nicht die medizinische Entwicklung war es, die ihr Sorgen bereitete. In den letzten hundert Jahren waren die Ärzte zu wahren Zauberern geworden, verglichen mit der Zeit davor. Sicher würde das nächste Millennium noch mehr dieser Wunder bringen, und es schien ihr plausibel, dass bereits am Ende des 21. Jahrhunderts alle jetzt noch tödlichen Krankheiten ihren Stachel verloren hatten. Sie rechnete damit, dass selbst die optimistischsten Voraussagen von der Wirklichkeit übertroffen würden. So war es meistens gewesen.
    Die Frage war nur, ob alle anderen Umstände dann noch stimmten.
    Ob die Menschheit sich bis dahin nicht in einem Krieg selbst ausgelöscht hatte. Ob das Funabashi Cryonics Center bis dahin noch bestand, und ob es sein Versprechen einhielt. Ob irgendjemand in der Zukunft ein Interesse hatte, die tiefgekühlten Toten zu wecken. Ob in der Zwischenzeit nicht ein Erdbeben, ein Computervirus oder ein andere Fehlfunktion den Kälteschlaf unterbrechen würde.
    Die Liste der Risiken ließ sich beliebig fortsetzen.
    Einmal hatte sie ihrem Vater die Frage gestellt, wie er so sicher sein könne, dass ein Leben in der Zukunft ihn glücklich machen würde. Er würde alleine in einer fremden Welt herauskommen, nichts und niemanden kennen, keinen Bezugspunkt haben, die Kultur und Sprache vielleicht nicht verstehen. Möglicherweise würde er sich wünschen, seinerzeit gestorben zu sein. Er hatte kurz nachgedacht und dann geantwortet, er könne die Entscheidung zu sterben jederzeit treffen, die Entscheidung zu leben allerdings nur einmal.
    Das kam ihr in den Sinn, als sie zusah, wie man den mit Konservierungsflüssigkeit gefüllten Leib in einen silbernen Zylinder schob. Man hatte ihr erzählt, seine Adern würden bald mit einem Material gefüllt, das wie Glas aushärtete, ohne zu gefrieren. Beim Gefrieren entstanden Kristalle, die die Zellen verletzten.
    Ich bete nicht für deine Seele , dachte sie. Ich bete für deinen Körper. Dass du nicht in einer Zukunft erwachst, in der man aus dir auf tausend Jahre einen Pflegefall macht. Dass man deinen Schlaf nur stört, wenn man dir wirklich helfen kann. Darauf hoffe ich.
    Es war ein seltsames Gefühl, als ein Mann den Deckel des Behälters schloss. Yuki fragte die leitende Ärztin, ob es möglich war, dass ihr Vater Träume haben oder Schmerzen verspüren würde. Die Frau schob den Mundschutz über ihr Kinn hinab und verneinte. Sie hatte ein quadratisches Gesicht, auf dem sich eine trockene, gelbweiße Haut über den grobknochigen Schädel spannte. Die etwa Fünfzigjährige schien Kontaktlinsen zu tragen, blinzelte häufig, und wenn sie den Mund öffnete, offenbarte sie lockere, schlechte Zähne, von deren Hälsen das Zahnfleisch zurückgewichen war.
    „In diesen Minuten wird die Körpertemperatur Ihres Vaters auf minus 60 Grad Celsius abgekühlt“, erklärte die Ärztin mit

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