Falkengrund Nr. 29
Vaters Vermögen in diese zweifelhafte Sache geflossen war. In den letzten Jahren hätte sie das Geld gut gebrauchen können. Wenn sie an die Ein-Zimmer-Wohnung dachte, in der sie hauste, regte sich Zorn in ihren Eingeweiden. Vielleicht hätte sie auch leichter einen Partner gefunden, wenn sie etwas wohlhabender gewesen wäre. Mit ihren 39 Jahren, ihrem geringen Einkommen und ihrem Durchschnittsgesicht hatte sie schlechte Aussichten, noch unter die Haube zu kommen.
„Rund 95 Prozent unserer Einkünfte fließen in krisensichere Geldanlagen. Sie dienen dazu, unseren Patienten eine lange Verwahrung und ein sorgenfreies Leben nach ihrer Erweckung zu garantieren. Schließlich soll ihre Heilung nicht an finanziellen Engpässen scheitern.“
Yuki nickte nur. Inzwischen hatten sie die andere Tür erreicht, jene, durch die sie vor fünf Jahren bereits einmal gegangen war. Damals war sie noch mit einem Schlüssel zu öffnen gewesen. Jetzt legte der Mann seinen Daumen auf ein schwarzes Feld und gab anschließend noch eine Zahlenkombination ein. Die Türhälften glitten auseinander.
Es ging durch einen schmucklosen, kaum beleuchteten Vorraum und dann in den geräumigen Fahrstuhl, der heute noch manchmal in ihren Albträumen auftauchte. Im Fahrstuhl waren auch die Gerüche aus dem Untergeschoss gegenwärtig, die Chemikalien, die in die Nase stachen und einen beißenden Geschmack auf der Zunge hinterließen, wenn man nur ihre Dämpfe einatmete – sie würde duschen müssen, sobald sie nach Hause kam. Diesmal fuhren sie in das zweite Untergeschoss. Hier war sie noch nie gewesen.
Es gab nicht viel zu sehen. Noch einer dieser dunklen Vorräume, eine weiße Tür mit der Aufschrift „Labor“, eine weitere, große, orangefarbene Tür und etwas, was beinahe eine Schrankwand hätte sein können, mit großen, marmorverkleideten Schubfächern. Es sah anders aus als die Leichenschauhäuser, die man in Filmen sah. Irgendwie feierlicher, endgültiger.
Man konnte die eisige Kälte schon spüren, die hinter dieser Wand lauerte. Sie kroch durch unsichtbare Ritzen, griff nach den Besuchern.
Irgendwo war ein klackendes Geräusch zu hören. Vermutlich die Kühlanlage.
„Was ist hinter der orangefarbenen Tür?“, fragte sie.
„Ungenutzter Stauraum, soviel ich weiß. Warten Sie einen Moment. Ich muss erst nachdenken, wie man das macht. Es wird Sie vielleicht befremden, aber ich war schon eine ganze Weile nicht mehr hier unten. Das gehört nicht zu meinen Aufgaben.“
„Aber Sie holen nicht Dr. Nomura zu Hilfe.“
„Das würde nur Probleme machen.“
„Wird Sie Ihnen nicht den Kopf herunterreißen, wenn Sie sie vor vollendete Tatsachen stellen?“
„Falls sie es tut, kann ich nur hoffen, dass sie ihn anschließend schnell genug einfriert.“ Der Mann räusperte sich wie als Entschuldigung für den schwachen Scherz. Nervös las er die Namen auf den Messingschildchen durch. „Maeda, Shôichi, nicht wahr? Hier haben wir ihn.“ Er zog an der Schublade, und ein warnendes Tuten erklang. Der Mann zuckte zusammen und ging an ein Schaltpult, das unauffällig in die Wand eingelassen war. Nachdem er auf dem kleinen Display mit gerunzelter Stirn ein paar Instruktionen gelesen hatte, drückte er zwei Tasten, und die Schublade fuhr von selbst heraus, bis die blitzende Metallröhre vollständig zu sehen war, die den Leib enthielt. Diese Röhre wiederum befand sich in einem durchsichtigen Kasten.
„Sie werden ihn aber nicht auftauen“, erkundigte sich Yuki unsicher.
„Keine Sorge. Die Röhre müsste sich aufklappen lassen, während die Kältekammer geschlossen bleibt.“ Er betätigte vorsichtig weitere Tasten. Ein Motor lief an, und mit einem durch Mark und Bein gehenden Kreischen öffnete sich unendlich langsam die Röhre in der Mitte. Zwei Flügel klappten auf, und darunter wurde immer mehr von dem Körper sichtbar.
Er hat die Augen noch immer geöffnet , war Yukis erster Gedanke, als sie unwillkürlich nach seinem Gesicht sah. Die Haut des nackten Mannes war von einem fahlen Blau, das nicht von der Beleuchtung her stammen konnte. Er sah aus, als käme er von einem anderen Stern. Die Gesichtszüge waren die alten, ein wenig angespannt vielleicht, als könne doch ein letzter Teil von ihm die Kälte spüren und leide darunter. Minus 191 Grad. Kaum vorstellbar.
Sie hatte angenommen, es würde keine Eiskristalle geben, da der Körper kein Wasser enthielt. Doch Teile seiner Stirn und ein großes Stück seiner Brust waren von Eis bedeckt.
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