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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Bilder?“, erkundigte er sich. Hatte es etwas mit ihrer Anstellung beim Funabashi Cryonics Center zu tun? Mit den eingefrorenen Toten? Eine Gänsehaut rann über seinen Rücken, als er zu erahnen versuchte, welchen Zusammenhang es zwischen den zu erweckenden Toten und einem von unbegreiflichem, magischem Leben erfüllten Filmstreifen geben mochte – dieser auf Zelluloid gebannten Welt, die einmal jemand als „Pseudojenseits“ bezeichnet hatte.
    „Wichtig dürfte nicht sein, was ich damit mache, sondern was ich dafür zahle“, meinte die Frau in geschäftsmäßigem Tonfall.
    „Ich besitze keines dieser Bilder.“ Das war nicht ganz die Wahrheit. Als seine Tochter Madoka mit ihrer Kommilitonin Melanie bei den Takases gewesen war, hatte sie ihnen zwei Einzelbilder abgenommen. Takase und seine Frau hatten sie wie Talismane bei sich getragen. Als ob ihnen eine spezielle Macht innewohne. Er hatte sich lange genug mit dem Film beschäftigt, um sich das vorstellen zu können. Melanie hatte eines davon mit nach Deutschland zurück genommen. Das andere befand sich hier in der Wohnung.
    „Takase sagte, Sie hätten ihm den Film weggenommen, gewaltsam womöglich.“ Ihre Augen wurden schmal. „Ich weiß, Sie werden denken, dass mich das nichts angeht. Trotzdem frage ich Sie, aus welchem Grund Sie das getan haben.“
    „Das kann ich Ihnen sagen. Ich konnte nicht zulassen, dass er ihn weiter zerschneidet.“
    „So etwas dachte ich mir. Sie schützen den Film. Sie würden mir gegenüber also auch niemals zugeben, dass Sie ihn haben.“
    „Ich habe ihn nicht. Das war nicht gelogen.“
    „Ich würde Ihnen gerne glauben. Leider kann ich mich auf Ihr Wort nicht verlassen – zu viel steht auf dem Spiel. Lassen Sie mich Ihnen meinen Sohn vorstellen …“
    Völlig unerwartet riss sie dem großen Mann neben sich den Mundschutz vom Gesicht. Andô erstarrte. Seine Ex-Frau, die eben den Tee auf einem Tablett brachte, zuckte so sehr zusammen, dass die heiße Flüssigkeit überschwappte.
    Das Gesicht des Mannes, den Dr. Nomura als ihren Sohn bezeichnete, war von Narben durchzogen. Doch das war nicht alles. Die größte Narbe verlief horizontal auf Nasenhöhe. Die Haut der Nase und der Wangen war eine andere als die des Kinns, von anderer Tönung und anderer Konsistenz. Unterhalb der Nase warf die Haut eigenartige Falten, die beinahe wie ein aufgemalter Schnurrbart wirkten. Der Mund war ein schiefer Strich, unter dem die Unterlippe wie ein Geschwulst hervorquoll. Die Gesichtsmuskeln zogen eine Miene, die es nicht gab, bei der nichts zusammenpasste. Als der Mann auch noch seine Sonnenbrille absetzte, blickten zwei unterschiedlich große Augen schielend in den Raum – beide mit brauner Iris, doch das eine frisch und weiß, das andere gelblich und blutunterlaufen.
    Dr. Andô sah einen Menschen vor sich, dessen Gesicht aus einzelnen Teilen zusammengestückelt worden war. Und als er unwillkürlich auf die breiten Pranken blickte, die auf der Couch lagen, entdeckte er auch dort Narben und Nähte, Haut von unterschiedlicher Farbe, Fingernägel von abweichender Form.
    Frankensteins Monster , dachte er. Das Zimmer drehte sich um ihn.
    „Wo ist der Film?“, fragte Dr. Nomura mit Nachdruck. Sie erhob sich, und das Ungeheuer stand ebenfalls auf, wobei es seinen schweren Körper mit den Händen hoch wuchtete, wie ein Affe es vielleicht tun mochte.
    Andô sog die Luft tief ein. Das Schwindelgefühl verschwand nicht. „Die Schatten haben ihn mitgenommen.“
    „Wer soll das sein?“ Die Stimme der Ärztin wurde scharf wie ein Skalpell.
    „Wesen“, brachte Andô hervor. „Schemenhafte schwarze Wesen. Mehr weiß ich nicht.“
    „Reden Sie kein Blech!“ Als sie das sagte, setzte sich das Monster in Bewegung. Es ging an dem niedrigen Tischchen vorbei, aber nicht richtig. Mit dem Knie blieb es daran hängen und warf es um. Auf dem Gesicht zuckte es, die unförmige Unterlippe schien sich aufzublähen, die Unterlider der Augen wurden herabgezogen.
    „Hakase, ich warne Sie“, zischte die Nomura. „Er versteht keinen Spaß. Das hat er von seiner Mutter. Wo ist der Film?“
    „Ich habe es Ihnen gerade gesagt.“ Andô beobachtete mit höchster Anspannung, wie das Ungeheuer auf ihn zukam. Er bekam es mit der Angst zu tun. Dieses Ding war imstande und tötete ihn aus Ungeschicklichkeit, ohne es zu wollen oder den Befehl dazu zu bekommen. War das überhaupt ein Mensch? Oder steckte in diesem zusammengestückelten Leib eine Art Maschine, ein

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