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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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seine „Mutter“, doch es haftete ihm auch etwas Jugendliches, nahezu Kindliches an. Was empfand dieses Wesen, während Andô es musterte? Wusste es, wer oder was es war?
    „Was sagen Sie?“
    Andô zögerte.
    „Gute Arbeit? Pfusch? Sprechen Sie aus, was Sie denken! Glauben Sie mir, ich werde Sie nicht wegen Ihrer Ehrlichkeit umbringen. Wenn ich Sie töte, dann für Ihre Lügen!“
    „Ich stelle es mir sehr schwierig vor, so etwas … ihn … zu …“ Ihm versagte die Stimme. Das Wesen starrte ihn noch immer an, mit einem halben Dutzend verschiedener Mienen, wie es schien. Es konnte einen Menschen den Verstand kosten, zu lange in dieses Gesicht zu sehen. Auf seine Weise war es weniger menschlich als jeder insektenköpfige Außerirdische es hätte sein können.
    „Denken Sie, das Monster von Frankenstein hat in etwa so ausgesehen?“
    Diese Frage verblüffte ihn. Seine Gedanken rotierten.
    „Haben Sie das Buch je gelesen?“, kam die nächste Frage, ehe er antworten konnte.
    Er dachte nach. „Frankenstein? Ich glaube, ich habe es in meiner Jugend einmal … überflogen.“
    „Mary Shelley“, sagte die Ärztin und schaute abwechselnd in den Rückspiegel und hinaus in den Verkehr. „Eine englische Schriftstellerin. Es gibt viele Theorien, warum sie diesen Roman geschrieben hat, über den Wissenschaftler, der aus Leichenteilen einen Menschen zusammensetzte, ihm Leben einhauchte, um dann – entsetzt von seiner hässlichen Gestalt – den Versuch zu unternehmen, ihm das geschenkte Leben wieder zu rauben.“ Sie reckte den Kopf, wohl, um im Rückspiegel auch einen Blick auf das Wesen zu erhaschen, das neben Andô saß. „Es ist die Rede von einem literarischen Wettstreit, einer Wette, von einem Traum, der Mary angeblich inspiriert haben soll. Manche unterstellen ihr sogar, den Roman nur geschrieben zu haben, weil Schauergeschichten damals gerade in Mode waren.“
    Andô wusste mit der Pause, die sie ihm gab, nichts anzufangen. Es irritierte ihn, dass sie hier tatsächlich über Frankenstein redeten. Das Wesen neben ihm verfolgte das Gespräch stumm, und seine abstoßende Miene gab keinen Aufschluss auf seine wahren Gefühle, denn sie schien verschiedene Emotionen auf einmal auszudrücken.
    „Was diese Literaturkritiker schreiben, ist dummes Zeug“, fuhr Dr. Nomura fort. „Ich habe Marys Biografie gelesen und sofort erkannt, aus welchem Antrieb heraus sie den Roman verfasst hat.“ Nun bog sie von der Straße ab, die nach Funabashi führte. Also hieß ihr Ziel doch nicht FCC. „Mary Shelley war insgesamt fünf Mal schwanger – davon hat sie vier Kinder verloren, teils durch Fehlgeburt, teils durch Krankheiten in frühster Kindheit. Als sie die Arbeiten an ihrem Frankenstein-Roman begann, hatte sie ihr erstes Kind bereits begraben müssen. Es war zu früh auf die Welt gekommen und nur wenige Tage alt geworden.“
    „Das war mir nicht bekannt“, bemerkte Andô.
    „Und warum sollte es auch?“, meinte Dr. Nomura. „Sie haben ja zwei lebendige Kinder. Ich habe die meinen alle vor oder bei der Geburt verloren.“
    Dr. Andô hustete. „Das tut mir leid.“
    Das Gesicht der Ärztin verzerrte sich. „Ja, das glaube ich Ihnen sogar. Mir tat es anfangs auch leid. Ich werde nicht versuchen, Ihnen zu schildern, wie ich mich gefühlt habe. Aber die Lektüre von Mary Shelleys wunderbarem, visionärem Buch hat mir Trost gespendet.“
    „Sie haben sich an ihr ein Vorbild genommen?“
    „Nicht an ihr – an ihrer Figur, Dr. Viktor Frankenstein.“
    „Dann ist“, Andô wagte es nicht mehr, das Wesen anzusehen, „dieser Mann also das, wofür ich ihn halten muss.“
    „Er ist mein Sohn, denn er ist mein Werk.“
    „Das ist … er ist … erstaunlich.“
    „Noch erstaunlicher ist, dass Mary Shelleys Buch mir detailliert den Weg vorgab, den ich zu gehen hatte. Und niemand hatte ihn bisher gesehen.“
    „Wie meinen Sie das?“ Dr. Andô sah nach draußen und prägte sich den Weg ein. Es wurde immer schwieriger, denn seit einigen Minuten bewegten sie sich auf Straßen, die er noch nie befahren hatte.
    „Dr. Frankenstein trieb sich in Schlachthäusern, in Leichenhallen und auf Friedhöfen herum. Er experimentierte mit Knochen und totem Fleisch. Vor fast zweihundert Jahren ist der Roman entstanden, und bisher ist es in der Realität niemandem gelungen, das in die Wirklichkeit umzusetzen, was Mary Shelley literarisch erdacht hatte. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Dr. Frankensteins Arbeitsmaterial waren tote

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