Falkengrund Nr. 29
man sezieren, analysieren und notfalls künstlich herstellen konnte. „Takase meinte, Sie seien auf der Flucht. Ich frage mich nur: Auf der Flucht wovor?“
„Ich …“
Jetzt erst erkannte er sie. Er war so verdutzt, dass er sich beinahe die Augen gerieben hätte, wie es Darsteller in schlechten Filmen manchmal taten, wenn sie Erstaunen ausdrücken wollten. „Sie sind diese … Ärztin aus dem … dem FCC.“
„Ja, ich bin eine Berühmtheit“, erwiderte sie kühl. „Jetzt, wo mir das Wasser bis zum Hals steht. Bekannt wird man nicht durch seine Verdienste, sondern durch seine Fehler. Aber ich glaube, das wissen Sie selbst, Hakase.“ Hakase war das japanische Wort für den Titel „Doktor“.
„Ich verstehe immer noch nicht, was Sie von mir wollen. Sie sprachen eben von Takase …“
„Es geht um den Film. Können wir drinnen reden?“ Sie warf dem Kerl neben ihr einen Blick zu. Er war außergewöhnlich groß und breitschultrig für einen Japaner. Vielleicht war es ja ein Ausländer. Man konnte von seinem Gesicht nicht viel erkennen, denn er trug eine schwarze Sonnenbrille und einen Mundschutz, wie man ihn in Japan anlegte, wenn man erkältet war und seine Mitmenschen vor den Erregern schützen wollte. Menschen mit Mundschutz sah man täglich in U-Bahnen und an anderen öffentlichen Orten, besonders jetzt, zur Grippezeit. Doch Dr. Andô war sicher, dass dieser Mensch den Schutz zur Tarnung trug. Die Sonnenbrille passte nämlich nicht zu dem trüben, bedeckten Tag.
Was verbarg er?
Andô erwog, den beiden die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch in diesem Moment kam seine Ex-Frau heran und musterte sie. „Besuch?“, fragte sie eher gleichgültig. Madoka war nicht zu Hause. Sie war in die Bibliothek gegangen und wollte erst gegen Abend zurück sein.
„Kommen Sie“, krächzte Dr. Andô und gab den Weg frei.
„Ich bringe Tee“, warf Madokas Mutter ein, ganz Gastgeberin. Sie schien zu glauben, es mit Kollegen ihres Mannes zu tun zu haben. Wahrscheinlich hatte sie noch immer nicht begriffen, dass er keine Kollegen mehr hatte.
Dr. Andô nickte geistesabwesend. Dr. Nomura hatte das Wort „Film“ fallengelassen und damit einen knallroten Knopf in ihm tief gedrückt. Spontan beschloss er, einen Vorstoß zu wagen. Als die Ärztin sich mit ihrem hünenhaften Begleiter auf die Couch niederließ, die nachts Madokas Lager war, sagte er in den Raum hinein: „Und die Schatten?“
„Welche Schatten?“, fragte sie nach. „Wovon reden Sie?“
„Von gar nichts“, erwiderte er rasch. „Was sagte ich gerade? Ich bin wohl noch etwas überrumpelt. Wieso wissen Sie von dem Film? Er war ein Geheimnis zwischen drei Personen. Ich verstehe nicht, warum Takase Ihnen davon erzählt haben sollte.“
Das Möbelstück knarrte unter dem schweren Mann mit dem Mundschutz. Seine Sonnenbrille war ein wenig von seiner Nase gerutscht, und er machte sich nicht die Mühe, sie zurechtzurücken. Seine Augenbrauen waren locker und unregelmäßig, schief, die Haut darunter sehr hell, während der Teint oberhalb der Brauen sonnengebräunt wirkte.
Dr. Nomura blinzelte mehrmals kraftvoll. Eine Art Tick. „Ich bin Wissenschaftlerin. Es ist meine Gewohnheit, direkt zur Sache zu kommen und offen über die Dinge zu reden.“
Andô setzte sich ebenfalls und legte seine Hände auf die Knie. „Einverstanden. Tun Sie das.“
„Takase hat mir einige Bilder verkauft. Fünf, um genau zu sein. Sie wissen schon, aus diesem Film. Ich war bei ihm und wollte mehr davon. Aber er sagte mir, Sie hätten ihm den Film weggenommen.“
„Das ist … prinzipiell richtig. Aber ich habe ihn nicht mehr.“ Ihm fiel nichts anderes ein als die Wahrheit. Sie sprach von Bildern. Damit konnte sie nur die Einzelbilder meinen, die Takase aus dem ominösen Film herausgeschnitten hatte, den sie zusammen mit Miura untersucht hatten. Er wusste nicht, wie viele der Techniker dem Filmstreifen entnommen und was er damit angefangen hatte. Aber dass er einige davon veräußert hatte, war zu vermuten gewesen. Der Alkoholiker Takase litt unter chronischem Geldmangel. Die Frage war, wer ihm diese Filmschnipsel überhaupt abkaufte.
Jemand wie Dr. Nomura? Warum? Was versprach sie sich davon?
Während er darüber nachdachte, durchzuckte ihn eine neue Erkenntnis: Hier ging es längst nicht mehr nur um ihre Erwartungen . Sie wollte mehr von den Bildern haben. Das musste bedeuten, dass sie ihr tatsächlich irgendetwas gebracht hatten!
„Wofür brauchen Sie die
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