Falkengrund Nr. 29
seinen Fingern. Santiago Faro, der seinen Vorgesetzten nicht aus den Augen ließ, war mit einem Taschentuch zur Stelle.
„Wenn jemand eine Leiche abtransportiert, gibt es Spuren“, sagte der Spanier und sah Godfredson erwartungsvoll an. Dieser drehte sich nicht einmal zu ihm um, meinte nur kühl: „Es gibt keine.“
„Aber es muss Spuren geben. Wir haben sie nur noch nicht gefunden.“
Der Schwede erwiderte nichts.
Fachinger bekam das Gespräch wie durch eine Watteschicht mit. Seit er die Wohnung betreten hatte, war das fiebrige Gefühl mit ganzer Macht zurückgekehrt. Die Räume erschienen ihm stickig und eng, die Wände schienen Hitze und Kälte zu verströmen, und es fühlte sich an, als würde eine unsichtbare Hand seinen Kopf auf die Größe eines Apfels zusammenpressen. Außerdem setzte ihm das Ambiente zu. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Schwarzweiß-Poster von zwei nackten muskulösen Männern, die auf einem Eisbärfell lagen und einander streichelten. Die Spitzen ihrer Geschlechtsteile ragten aus der Umklammerung ihrer Hände. Das Bild zog seine Blicke immer wieder an, obwohl er es nicht sehen wollte.
Neben der Stelle, wo das Opfer möglicherweise verblutet war, lag ein großer Schraubenzieher mit einem blauen Kunststoffgriff. Das Metall war blutverschmiert, der Griff weitgehend sauber. Zweifellos der wichtigste Fund. Die Mordwaffe? Er sah zu, wie Godfredson das Werkzeug vorsichtig in eine Plastiktüte steckte, nachdem er davon mehrere Fotos aus unterschiedlichen Entfernungen und Winkeln geschossen und die Fundstelle markiert hatte. Dreißig Zentimeter rechts von der Stelle lag ein Telefonbuch, geschlossen. Die Titelseite zeigte nach oben.
„Es ist nicht von hier“, verkündete Faro eifrig. „Es ist von Mannheim. Und aus dem Jahr 1999.“
Fünf Jahre alt also. Fachinger krächzte: „Wir müssen das Buch genauestens untersuchen. Vielleicht ist eine Nummer markiert.“
„Auf dem Telefonbuch ist kein Blut“, stellte Faro fest. Tatsächlich war das Titelblatt sauber, und auch die Seiten hatten nichts abbekommen. Als Godfredson das Buch behutsam aufhob, klebte Blut an der Rückseite. Faros Augen blickten fasziniert. „Das Telefonbuch wurde also erst hingelegt, als die Tat schon geschehen war. Der Mörder muss es hingelegt haben! Aber warum?“
Fachinger fühlte sich nicht in der Lage, Warum-Fragen zu beantworten. Das waren immer die tückischsten. Ihm fiel es schwer genug, sich auf die Fakten zu konzentrieren. Immer wieder verschwamm das Zimmer vor ihm. Gerne hätte er sich hingesetzt, aber das ging nicht. Er hätte sich auf den schwarzen Ledersesseln auch nicht wohlgefühlt.
Ein Beamter in Uniform kam herein und meldete, dass der Vermieter eingetroffen war. Man hatte ihn rasch ausfindig gemacht und hergebeten – er wohnte im nahegelegenen Baiersbronn. Dirk Fachinger war froh, als er die Wohnung verlassen konnte.
Und er machte eine unglaubliche Entdeckung: Exakt in dem Moment, in dem er die Schwelle in den Flur überschritt, waren seine Grippesymptome wie weggeblasen! Der Druck, der auf seinem Schädel gelastet hatte, war verschwunden, er fühlte sich nicht mehr schwindelig, und statt des Wechsels aus Hitze und Kälte empfand er nun die Temperatur im Treppenhaus so, wie sie war: Etwas frisch, aber nicht eisig.
Für einige Sekunden stand er wie gelähmt da und horchte in sich hinein. Was war da passiert? War die Erleichterung, diesen herben Cocktail aus Homoerotik und Tod hinter sich zu lassen, so groß, dass es zu einer spontanen Heilung gekommen war? Selten hatte er sich so gesund gefühlt wie in diesem Moment, und gleichzeitig kam er sich von der Situation, die er nicht einschätzen konnte, bedroht vor.
Ein kleiner, fülliger Mann mit einer Hornbrille streckte ihm die Hand entgegen, und das wohl schon seit geraumer Zeit, denn das höfliche Lächeln auf dem kreisrunden Gesicht war längst zu einer Fratze erstarrt. Im Hintergrund hatten sich Schaulustige versammelt, Mitbewohner, darunter jene Frau, die die Polizei gerufen hatte. Auch sie würde er später noch befragen müssen. Fachinger kramte die Schnupftabaksdose aus seiner Tasche. Zum ersten Mal seit Tagen hatte er Appetit darauf.
„Ist Herrn Schranz etwas zugestoßen?“, fragte der Vermieter mit herabgezogenen Augenbrauen. Fachinger beobachtete ihn genau – dazu war er jetzt wieder fähig – und hatte den Eindruck, als ob das Mitleid des Mannes sich in Grenzen hielt. Der Hauptkommissar nahm ihn beiseite, ging ein Stück
Weitere Kostenlose Bücher