Falkengrund Nr. 30
Erde. Ich wette, du hast etwas damit zu tun.“ Hannes schüttelte den Kopf. „Ich führe Selbstgespräche wie ein Betrunkener, dabei bin ich seit Ewigkeiten nüchtern. Gott, wie nüchtern kann jemand sein, der mit einer Tonstatue spricht?“ Er kicherte. „Hörst du mir überhaupt zu? Ich bin immerhin dein Vater.“
Der Humor machte ihm keinen Spaß, laugte ihn nur aus, deprimierte ihn, und er wurde wieder ernst. „Ich werde Traude klarmachen, dass ich ausziehe. Soll sie alleine weitermachen. Sie ist ein zähes Stück Fleisch – wahrscheinlich hat sie noch zwanzig, dreißig Jahre auf dieser Erde. Du bist viel mehr ihr Sohn geworden als meiner. Und weiß du was? Ich …“
Einen Augenblick später wusste er nicht mehr, was er hatte sagen wollen. Der Fußboden gab unter seinem linken Fuß nach und sackte ein wenig ein. Dabei gab er kein Geräusch von sich, wie es morsche Dielen getan hätten, sondern sank nur lautlos hinab wie weiches Erdreich.
Stein und Holz verwandelten sich in Erde.
Ihre Bemühungen hatten irgendetwas bewirkt. Etwas Unerwünschtes. Sie hatten einen Fluch auf das Haus geladen. Eine Krankheit.
„Wir sollten dich vernichten, Michael“, sagte Hannes. „Ich wette, es ist der einzige Weg, unsere Seelen zu retten.“
Die Statue regte sich nicht.
Minutenlang lief er in dem Zimmer umher, vorsichtig, wie jemand, der über dünnes Eis ging. Er brach nicht ein, aber er spürte die weiche Nachgiebigkeit des Fußbodens. In naher Zukunft würde das Haus über ihnen zusammenbrechen oder in der Erde versinken. Lange konnten sie nicht mehr hier bleiben.
Hannes wusste, dass er in diesen vier Wänden keine Nacht mehr ruhig schlafen würde. Gegen Morgen weckte er Traude schließlich doch, indem er laut an ihre Tür klopfte.
Er führte sie in Michaels Raum, zeigte ihr die Schäden im Fußboden. Dann ging er mit ihr in sein Schlafzimmer, wo sie sich die Wand ansahen, von der die Uhr herabgefallen war.
Traude begutachtete die Stellen mit finster brütendem Blick. „Ich werde mich darum kümmern“, verkündete sie schließlich.
„Ach ja? Was willst du dagegen tun?“
„Ich nichts“, antwortete sie. „Aber vielleicht kenne ich jemanden, der es kann. Ich werde ihn anrufen.“
7
Dieser Jemand stand am Nachmittag des folgenden Tages vor ihrer Tür. Hannes hätte ihn beinahe nicht eingelassen, denn er sah aus, als wäre er aus dem Zoo entsprungen.
Klein und gebeugt, scheinbar am ganzen Körper behaart, mit einem struppigen dunklen Bart, der von seinem Gesicht kaum etwas erkennen ließ. Die Augenbrauen waren dicker als die meisten Schnurrbärte, die Hannes je gesehen hatte, die Handrücken von einem dichten Fell überwuchert. Der Fremde blickte beschämt zur Seite, wenn man ihn ansah.
„Das ist also das … äh … Haus“, stellte er fest.
„Und Sie sind Dr. Konzelmann?“ Traude hatte ihm erzählt, dass sie einen Wissenschaftler angerufen hatte, der im Elsass wohnte und sich mit Magie und Chemie beschäftigte. Ihre Schilderung am Telefon musste ausgesprochen interessant geklungen haben, denn der Forscher machte sich sofort auf den Weg. Traude gab zu, ihn nie getroffen zu haben. Sie war in einigen Büchern über seinen Namen gestolpert.
Der Doktor wartete schüchtern vor der Tür, bis Hannes ihn hereinbat. „Wo ist der Go-… äh … lem?“, erkundigte sich Konzelmann.
„Eine Frage“, sagte Hannes, während er den gorillaartigen Mann durch den schmalen Flur geleitete. „Haben Sie schon einmal einen Golem gesehen? In der Wirklichkeit, meine ich.“
Roderich Konzelmann dachte nach, und es dauerte so lange, dass sie vor der Tür zu Michaels Zimmer standen, ehe er eine Antwort gab.
„Was ist?“, wollte Hannes wissen, die Hand auf der Klinke. Plötzlich nahm er sich vor, den Wissenschaftler nur in den Raum zu lassen, wenn er seine Frage beantwortete.
„Ja … ich habe … drei gesehen“, gab Konzelmann zur Auskunft.
Hannes’ Augen weiteten sich. „Drei? Und sie haben … gelebt?“
„Nein, äh … nein. Das kann man nicht … Keiner hat … äh … wo ist dieser … Golem?“
Hannes öffnete die Tür, halb befremdet, halb aufatmend. Der Doktor war seltsam, aber wenigstens schien er einen Sinn für das Reale zu haben. Die Golems, die er gesehen hatte, waren unbelebt gewesen, erfolglose Versuche, wie der ihre. Obwohl ihn das hätte traurig stimmen müssen, beruhigte es ihn irgendwie. Die Vorstellung, dieser Leib könnte zum Leben erwachen, machte ihm mittlerweile mehr Angst als
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