Falkengrund Nr. 30
Konzelmann führte er ein ausführliches Gespräch. Mit seiner Autorität, seiner Polizeimarke und einer gehörigen Portion Hartnäckigkeit brachte er den schüchternen Mann an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Die Gespräche mit den Studenten fielen dagegen kürzer aus.
Als er eben auf dem Weg durch die Halle war, um seine letzten beiden Opfer in der Bibliothek zu suchen, bemerkte er das Telefon, das dort in einer Ecke stand. Ein Anrufbeantworter war eingeschaltet, und auf dem Display war abzulesen, dass ein Anruf mit der Vorwahl 0081 angenommen worden war. Fachinger erkannte die Vorwahl als die von Japan. Woher er dieses Wissen hatte, konnte er nicht sagen. Es gehörte zu den Dingen, die er irgendwann aufgeschnappt hatte und auf die er in seinem außergewöhnlichen geistigen Zustand plötzlich wieder Zugriff hatte.
Der Anruf interessierte ihn, also hörte er ihn ab. Ein Mann namens Dr. Fumio Andô sprach in schlechtem Englisch etwas kaum Verständliches aufs Band. Der Name Michael Löwe fiel – etwa in der Aussprache „Maikel Levi“.
In der Halle hielt sich momentan niemand auf. Kurzentschlossen rief der Beamte die Nummer an. Da es in Deutschland kurz vor zwölf Uhr vormittags war, musste es in Japan gleich 20 Uhr sein. Vermutlich eine gute Zeit, um jemanden anzutreffen.
Andô meldete sich mit „Moshimoshi“, dem japanischen „Hallo“.
Fachinger entschloss sich zu pokern und nannte sich Hotten, den „school director“. Er bat den Japaner, ihm genaueres zu verraten. Daraufhin erklärte ihm Andô, es klinge unglaublich, aber seine Tochter Madoka und er seien einer Frau begegnet, die aus Leichenteilen gleich zwei Monster zusammengesetzt habe. Sie nenne sie ihre Söhne. Der Name der Frau sei Nomura, und offenbar leide sie sehr unter ihrer Kinderlosigkeit. Ihr Mann sei Deutscher gewesen, sein Name Hannes Löwe. Und nun frage er sich, ob da ein Zusammenhang zu Michael Löwe bestehe, der seines Wissens ja Student auf Falkengrund sei. Die Nomura hatte behauptet, auch ihr Mann sei kinderlos geblieben. Dann sei Michael ja bestimmt nicht sein Sohn. Das alles gehe ihn ja eigentlich nichts an, aber die Sache würde ihn interessieren, und auf Falkengrund gingen ja stets merkwürdige Dinge vor sich.
Fachinger bedankte sich für die Informationen, stellte noch einige wenig ergiebige Fragen und legte schließlich hastig auf, als er Schritte hinter sich hörte. Hotten kam die Treppe herab.
„Ich habe mir erlaubt, Ihr Telefon zu benutzen“, beichtete Fachinger und legte seine Stirn in schuldbewusste Falten. „Und auch noch für ein Gespräch nach Übersee. Ich habe nach Japan telefoniert, mit einem gewissen Dr. Andô. Offenbar ist er der Vater der Studentin namens Madoka, die ich bei meinem letzten Besuch kennen zu lernen das Vergnügen hatte. Obwohl ich mich zu entsinnen glaube, dass sie einen anderen Nachnamen hatte …“
„Andô? Was wollten Sie von ihm?“
„Er wollte etwas von mir. Er gab mir einen aufschlussreichen Hinweis … den ich Ihnen leider in diesem Moment noch vorenthalten muss. Aber keine Angst! Schon bald wird sich alles aufklären. Während wir miteinander reden, formen sich die Einzelstücke in meinem Kopf zu einem Ganzen. Ich würde Sie bitten, nach dem Mittagessen alle im großen Seminarraum zusammenzurufen. Dort bilden wir einen Kreis, und ich gehe in der Mitte umher und löse den Fall. Sie kennen das sicher aus den Detektivfilmen. Unter uns: Ich wollte das schon immer einmal tun.“
Er grinste den Rektor an, und dieser sah aus, als würde er ernsthaft am Geisteszustand des Beamten zweifeln.
9
Vergangenheit
„Es war ein Fehler“, plapperte Helga vor sich hin. „Ich hatte die Dinge nicht unter Kontrolle. Woher hätte ich wissen sollen, dass dieser Kerl einen Embryo bei sich trug? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich die Séance niemals durchgeführt. Er sah so harmlos aus – ich hätte ihm das niemals zugetraut. Aber wenn eine Seele ins Innere des Pentagramms gerufen wird, darf sich ihr Körper unter keinen Umständen dort befinden. Es ist nur natürlich, dass die Seele versucht, ihn wieder zurückzubekommen. In diesem engen, intensiven Raum in der Mitte des Pentagramms kann das allzu leicht gelingen.“
Die Frau trug die Haare noch immer lang, offen und blondiert. Ihre Augen hatten einen irren Glanz angenommen, und ihr schlaffer Mund war in ständiger Bewegung. Sie führte ohne Unterlass ihre Selbstgespräche, störte sich nicht daran, dass ihr Passanten begegneten und ihr
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