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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Hannes.“ Der Keeper brachte ihr Bitter Lemon, und sie bestellte noch eines, diesmal für den Mann neben ihr.
    „Ich werde es nicht trinken“, sagte er und lachte noch immer über die absurde Situation. „Es schmeckt nach modriger Erde.“
    „Erde ist etwas Gutes. Genau, was wir brauchen.“
    „Ja?“
    „Ich habe viel gelesen. Die ganzen Monate über habe ich nichts getan als zu lesen und dich zu suchen. Du trägst den Leib noch immer überall mit dir herum, habe ich recht?“
    Und wenn es so wäre? , dachte er, sagte aber nichts.
    „Es gibt eine Möglichkeit, Michael zu körperlichem Leben zu erwecken. Die Lösung habe ich in den Schriften der Kabbala gefunden.“
    „Jüdische Geheimlehre“, murmelte Hannes.
    „Die Macht der Buchstaben“, ergänzte sie. „Wer die richtigen Kombinationen kennt, kann praktisch alles vollbringen.“
    „So einfach ist das also“, stöhnte er müde. „Wenn ich an die Medikamente denke, die ich alle geschluckt habe, an die Nebenwirkungen und die horrenden Preise … Übrigens: Wer ist Michael?“
    „Ich finde, es ist ein guter Name für deinen Sohn. Michael ist hebräisch und bedeutet: Er ist wie Gott.“
    Das Bitter Lemon kam, und er würdigte es keines Blickes. Er sah sich in der Kneipe um. Hauptsächlich Männer saßen hier, einige hatten Frauen neben sich, jüngere und solche, die ihr Alter abgelegt hatten wie ein Kleid, das ihnen zu eng geworden war. „Eine letzte Frage noch: Warum interessierst du dich überhaupt für Mi-… für meinen Sohn? Geht es um Geld? Ich habe kein Geld mehr.“
    „Es wird nicht deine letzte Frage sein. Viele werden folgen. Du wirst genau wissen wollen, wie es funktioniert.“
    „Ich habe einfach kein Geld mehr“, wiederholte er.
    „Gott hat Adam aus Erde geschaffen“, erklärte die Alte zusammenhanglos. „Wir werden es ihm gleichtun.“
    „Ich mache nicht mit.“
    „Du wirst mitmachen.“
    Sein Arm zuckte und schleuderte das Glas mit dem Bitter Lemon vom Tresen. Wie durch ein Wunder fiel es zu Boden, ohne zu zerbrechen. Der Keeper reagierte lässig, kam um die Theke herum, hob es auf und wischte den Boden ab.
    Verzweiflung keimte in Hannes auf. Er hatte mit der Sache doch eben erst angeschlossen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte er so etwas wie Erleichterung empfunden. Dieses Gefühl hatte er kultivieren wollen, es hätte in ihm und auf ihm wachsen sollen, bis es ihn überwucherte wie ein höchstpersönlicher Garten Eden, dessen Wurzeln tief in seinem Unglück steckten und es langsam verzehrten.
    Und nun kam diese verrückte Alte und …
    Michael.
    Michael!
    Michael?
    Das Gefäß mit dem Embryo befand sich noch immer in seiner Tasche. Das Ding in Formaldehyd war farbloser geworden, durchscheinend wie ein Gespenst, das seine körperliche Hülle aufzulösen versuchte, es aber nicht vollständig schaffte. Im Laufe der Monate war es ihm immer fremder geworden, und heute wäre er soweit gewesen, nach Hause zu gehen, es in einen Schrank zu stellen und dort zu lassen.
    Doch nun hatte das Gespenst einen Namen bekommen.
    Die Alte hätte sagen können, was sie wollte. Hätte tausend Argumente und tausend Verlockungen aussprechen können. Sie wären an ihm abgetropft, hätten ihn kaltgelassen.
    Aber sie hatte etwas getan, wogegen er machtlos war. Etwas, das alles änderte.
    Sie hatte seinem Sohn einen Namen gegeben.

5
    Gegenwart
    „Wer ist da?“ Margarete Maus hatte die Hände erhoben, wie um sich vor etwas zu schützen. Seit sie erblindet war, verkroch sie sich häufig in ihrem Zimmer. Vor wenigen Tagen hatte sie das Unterrichten wieder aufgenommen, aber es fiel ihr schwer, und sie tat es nur, weil ihr der Gedanke nicht gefiel, dass Traude Gunkel ihren Unterricht womöglich auch noch übernehmen würde. Es reichte, dass die unausstehliche Schachtel an Sir Darrens Stelle getreten war – ihren Platz würde sie nicht auch noch einnehmen.
    „Ich bin’s, Marg.“
    „Werner!“
    Der Rektor stahl sich in den Raum, in dem es außergewöhnlich stark nach Räucherstäbchen roch. „Ich komme gleich zur Sache“, begann er. „Dieser Fachinger ist im Haus. Ich fürchte, er wird auch noch mit dir sprechen wollen.“
    Margarete stand hastig auf und sah in seine Richtung. Ungefähr in seine Richtung. „Geht es um Lorenz?“
    „Anscheinend nicht. Aber mir ist nicht ganz klar, was er hier will. Er tut so, als wolle er uns keine Schwierigkeiten machen, aber er hat mit Michael geredet, und Michael hat ihm die Geschichte von seinem Vater

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