Falkengrund Nr. 30
skeptisch nachsahen. Mit entschlossenen Schritten stapfte sie durch die Straßen wie ein zorniges kleines Kind. Die letzten Jahre hatten sie vollends zum Wrack werden lassen, körperlich wie seelisch.
„Seit diesem Tag will mir nichts mehr glücken“, brabbelte sie und sah einem dicken Mann nach, der an ihr vorüberging und sie seinerseits musterte. „Ja!“, rief sie ihm entgegen, als hätte er etwas mit der Sache zu tun. „Ja, es war mein Schicksalstag! Die Geisterwelt verschließt sich seither vor mir. Ich habe meine Befugnis überschritten, habe einem Toten Zugang zu seinem Körper verschafft. Wie konnte ich so etwas nur tun?“
Der Mann schüttelte den Kopf und sah zu, dass er weiterkam.
„Die Seele des ungeborenen Kindes ist in ihren Körper gefahren – ein Unding.“ Sie überquerte die Straße an einer roten Ampel. Autos hupten, und ein Fahrradfahrer konnte ihr gerade noch rechtzeitig ausweichen. Helga gestikulierte wild mit erhobenen Händen. „Ja, lebt nur weiter euer beschränktes Leben. Ihr wisst ja gar nicht, welche Welten es da noch gibt, welchen Gesetzen wir unterliegen. So viele Fehler, die darauf warten, begangen zu werden. Keine Séance gelingt mir mehr, die Geister verhalten sich nicht mehr kooperativ. Und ich weiß auch, warum. Ich bin zu einer Totenerweckerin geworden. Jawohl! Und das ist nicht gut.“
Zwei Streifenpolizisten, die sich vor einem Geschäft mit dem Ladenbesitzer unterhielten, blickten ihr nach, ließen sie jedoch schulterzuckend passieren, als sie hörten, dass sie von Geistern sprach. Vielleicht hätten sie anders reagiert, wenn sie die darauf folgenden Worte gehört hätten …
„Ich werde erst dann wieder akzeptiert werden, wenn ich meinen Fehler wiedergutgemacht habe. Ausmerzen werde ich meinen Fehler. Der Embryo lebt. Bestimmt ist er herangewachsen. Er muss bei dieser Traude sein – dieses treuelose Miststück hat unseren Zirkel verlassen, nachdem dieser Vorfall geschehen ist. Das kann nur bedeuten, dass sie nach diesem Geschöpf sieht, es großzieht. Lange habe ich nach ihr gesucht, doch jetzt habe ich ihre Spur gefunden. Ihre und die dieses Hannes. Sie wohnen im selben Haus. Na, wenn das keine großartige Spur ist! Ich wette, sie sind dort nicht allein. Sie haben es bei sich. Es, das Tote, das durch meine Unachtsamkeit zum Leben erwacht ist.“ Sie schluckte aufgeregt und keuchte, denn ihre Schritte wurden schneller und schneller, obwohl die Straße jetzt anstieg. „Ich muss wieder töten, was tot zu sein hat. Das Schicksal wollte nicht, dass dieser Mensch lebt, also werde ich dafür sorgen, dass der Schnitzer wieder ausgebügelt wird. Heute töte ich Hannes’ Sohn!“
Weiter oben im Verlauf der Straße standen die Häuser lockerer. Es waren kleine, alte Häuschen, mit schmutzigen Höfen und verwilderten Gärten rund herum. Eines davon gehörte Hannes Löwe, und Helga steuerte unbeirrt darauf zu …
10
Als es an der Tür klingelte, dachte Hannes an Dr. Konzelmann. Der Forscher hatte keine genaue Zeit genannt, nur gesagt, dass er sie am Nachmittag aufsuchen würde. Jetzt war es kurz nach ein Uhr. Traude hatte das Haus schon am Morgen verlassen, war aber noch nicht zurückgekehrt. Gegen zehn hatte sie von unterwegs angerufen, dass es später werden würde. Es gestaltete sich schwieriger als erwartet, die von Dr. Konzelmann geforderten Chemikalien in diesen großen Mengen zu besorgen.
Traude hatte einen Schlüssel, würde also nicht klingeln.
In Erwartung des gedrungenen, dicht behaarten Wissenschaftlers öffnete Hannes die Tür.
Eine hagere Frau stieß ihn gegen die Wand und verschaffte sich so Zutritt zum Haus. Im ersten Moment erkannte er sie nicht, sah nur ihr vor zorniger Entschlossenheit verzerrtes Gesicht, die unnatürlich blonden Haare, und erkannte an ihren kantigen Bewegungen ihr fortgeschrittenes Alter.
„Moment!“, rief er. Sein Rücken schmerzte. Die Frau hatte erstaunliche Kräfte entwickelt.
Sie war auch schnell. Mit suchend hin und her schnappendem Kopf lief sie durch den Flur. Sie stieß zwei Türen auf, warf jedoch nur flüchtige Blicke in die dahinterliegenden Zimmer. Immerzu redete sie im Selbstgespräch. „Heute ist der Tag, an dem ich ein Ende mache“ und ähnliches. Hannes konnte nicht verhindern, dass sie die offenstehende Tür auf der linken Seite erreichte.
Michaels Zimmer. Hannes hatte sich eben noch dort aufgehalten und die Tür nicht geschlossen. Am Vormittag hatte er aus dem Garten Steinplatten hereingeholt, die er nun
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