Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Stunde nicht gekommen war, trieb es dahin, ohne Halt, ohne Ziel.
    Als die Zeit reif war, schlug es zu.
    Blake Owens verfluchte den Seegang. Er tat es mit dem Vokabular einer Landratte, aber einer Landratte mit Stolz. Die achtundvierzig Jahre seines Lebens über hatte er nie einen Fuß auf ein größeres Schiff gesetzt. Kurze Überfahrten in Fähren hatte er über sich ergehen lassen wie ein Hippie den Haarschnitt bei der Army, doch nie ohne mit vorverdauter Nahrung die Fische zu füttern. Oder ohne sich zu wünschen, tot in einem Sarg zu liegen. Nun allerdings balancierten ihn seit Wochen stadtgroße Ozeankreuzer. Zunächst fuhr er über den Pazifik von Japan nach Mittelamerika, und jetzt passierte er auch noch den Atlantik. Sein Ziel war London, aber jeden Tag erzählte er seinem grünlichen Spiegelbild, dass er keine Hoffnung mehr habe, die Metropole an der Themse jemals lebend zu erreichen.
    Sein Fortbewegungsmittel war gewöhnlich das Flugzeug, eine saubere Sache, umhüllt von klarer, kalter, trockener Luft. Diesmal hatte jemand einen gotteslästerlichen Scheck vor seiner Nase geschwenkt, so lange, bis er jede einzelne Null riechen konnte. Er hatte das Objekt gesehen, das er auf dem Seeweg transportieren sollte. Ihm war nicht klar, was es so wertvoll oder außergewöhnlich machte, und die Furcht seines Auftraggebers vor den Röntgengeräten auf den Flughäfen kam ihm wie Altersschwachsinn im letzten Stadium vor. Doch Blake war käuflich, eine schrullige männliche Hure, die für Geld alles gab außer Sex. Abstruse Sonderwünsche gehörten dazu.
    Die Nacht war kühl und sternenklar. Blake Owens verbrachte sie wie so viele zuvor in einem Liegestuhl an Deck, eingehüllt in eine schlecht riechende blaue Decke. Die frische Luft linderte sein Unwohlsein ein wenig, und der Blick an den Nachthimmel beruhigte ihn mehr als das Fernsehprogramm in seiner Kabine. Immer wieder kletterten Passagiere an Deck, Schlaflose, wie Zombies, die er Tod nicht in ihren Gräbern halten konnte. In den seltensten Fällen kamen die jungen, attraktiven Millionärstöchter, mit denen er gerne geplaudert hätte. Meist musste man sich mit alten Knackern zufrieden geben, die nur die Geschichten ihrer Operationen und Kriegseinsätze noch am Leben hielten. Und die zu allem Überfluss unermüdlich davon erzählten, dass sie gerne mit jungen, attraktiven Millionärstöchtern geplaudert hätten.
    „Träumen Sie weiter“, sagte Blake in solchen Situationen lieblos, um wieder alleine zu sein.
    In dieser Nacht hatte er noch niemanden verscheuchen müssen. Trotzdem war da ein Gefühl in ihm, nicht alleine zu sein.
    Blake hatte gelernt, auf solche Gefühle zu hören. Äußerlich blieb er ruhig, veränderte seine Position auf dem Liegestuhl nicht. Innerlich war er hellwach. Durch die Glocke aus Übelkeit, die sein Organismus um ihn legte, lauschte er in die Dunkelheit hinein, tranchierte das Huhn namens Wirklichkeit, trennte das Meeresrauschen vom Brummen der Motoren, den Wind von der aus der Ferne herandringenden Jazzmusik – ein zu laut aufgedrehtes Radio irgendwo auf dem riesigen Schiff.
    Was übrig blieb, war ein schmatzender, feuchter Ton, nicht sehr laut. In seiner Fantasie entstanden Bilder von einem kleinen Meerestier, das über das Deck kroch, eine Seegurke oder …
    Blake richtete den Blick nach rechts in Richtung Vorderdeck. Angenehm gedämpftes Licht erhellte die Szene. Es herrschte makellose Sauberkeit. Das Schiff, das Meer, der Himmel – alles wirkte ordentlich und frisch gereinigt, die Dinge waren an ihrem Platz.
    Nur das Geräusch gehörte nicht hierher.
    Der Mann stieg aus dem Liegestuhl. In der Tasche seiner Flanellhose befand sich der Gegenstand, den er transportierte. Er unterdrückte den Impuls, danach zu tasten. So etwas taten nur Amateure. Wenn ihn wirklich jemand beobachtete, durfte er ihm keinen Anhaltspunkt geben. Auch nach dem kurzen Messer, das er am Gürtel trug, griff er nicht. In seiner Kabine lag eine Schusswaffe. Seit einigen Nächten brachte er sie nachts nicht mehr mit an Deck. Leichtsinn?
    Über das weiße Deck glitt ein dunkler Klumpen.
    Also doch ein Tier! Es verwirrte ihn, dass er nicht sagen konnte, um welche Art von Meeresbewohner es sich handelte. Es schien weder Flossen noch Beine zu haben, war kaum mehr als ein Fleck, dem ein launischer Gott eine dritte Dimension gegeben hatte. Wie war es überhaupt an Bord gelangt? Bei Sturm wurden manchmal Fische aufs Schiff geschleudert, doch das Meer war ruhig seit der

Weitere Kostenlose Bücher