Falkengrund Nr. 30
beruhigen. Gemächlich ließ er das Skalpell sinken, bereit, es dennoch jeden Augenblick nach vorne zu stoßen. „Guten Tag“, sagte er dann auf Deutsch. „Ich denke, ich habe mich … verirrt. Es lag nicht in meiner Absicht, Ihre Operation zu stören.“ Er sprach langsam, einschmeichelnd, fieberhaft bemüht, keine falschen Betonungen in die Wörter zu legen. So ließ er „Operation“ so sachlich klingen, wie er es eben vermochte.
Der andere kam zwei Schritte näher. Sir Darrens Blicke saugten sich an der Klinge seines Skalpells fest. Der Wahnsinnige hielt es hoch über seinen Kopf und drehte es dann rasch in der Hand um, dass die Klinge nach unten zeigte wie die eines zum Herabstoßen bereiten Dolches.
„Sie wollen doch keinen Rückzieher machen?“, klang die Stimme auf. Sie ähnelte in der Tat dem, was man aus Filmdokumenten als die Stimme des Führers kannte. Dahinter steckte weit mehr als ein rollendes R. Der Irre hatte sich den Rhythmus, die Sprachmelodie dieses Menschen mit hohem Perfektionsgrad angeeignet. „Er braucht doch unsere Hilfe, rrrichtig?“
Sir Darren versuchte tief durchzuatmen, aber es ging nicht. Das Grauen hockte wie ein Alb auf seiner Brust und machte jeden Atemzug zur Qual. Die Situation hatte etwas Lächerliches an sich, aber das machte den Wahnsinnigen und sein blutiges Skalpell nicht weniger gefährlich.
„Wenn er Hilfe braucht, warum helfen Sie ihm dann nicht?“, würgte der Brite hervor.
Die Erwiderung war kurz und knapp. „Weil Sie im Weg stehen.“
Sir Darren machte einen hektischen Schritt zurück, in den schrecklichen Raum hinein , stieß mit dem Fuß gegen den Papierkorb, warf ihn um, lautstark. Der runde Behälter rollte quer durch den Raum, bis er von einem Bein des Operationstisches gestoppt wurde. Jetzt sah er es! Der Tisch hatte Räder. Wenn er schnell genug gehandelt hätte, hätte er den Leidenden wegbringen können. Nein, nein, das stimmte nicht! Wie hätte er mit ihm die Treppe überwinden sollen?
„Kommen Sie“, befahl die Führer-Imitation. Langsam schritt der Mann an den Tisch, berührte die Klemmen, die straff und erbarmungslos das Gewebe hielten, und strich zärtlich darüber. „Gehen Sie mir zur Hand.“
Unterdessen starrte Sir Darren auf das zusammengeknüllte Papier. Am liebsten hätte er es aufgehoben und nachgesehen, was das blaue Poster darstellte. Er erhoffte sich ein wenig Aufschluss darüber, was hier vorging, denn musste nicht dieser Wahnsinnige die Poster von den Wänden der Pasewalk Clinic gerissen haben?
Pasewalk …
Jetzt erinnerte er sich!
Er hatte das Wort ganz automatisch englisch gelesen, aber das war kein englischer Name. Pasewalk – so hieß eine Stadt, eine Stadt in Deutschland.
Wenn er sich recht entsann, lag sie irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern. Und da gab es eine Geschichte und einen Zusammenhang. Was war da noch gleich gewesen?
„Pa-se-walk“, hauchte er, ohne es zu wollen.
„Pasewalk“, wiederholte der Psychopath. „Ein unverbesserlicher Haufen Quacksalber. Andererseits – alles, was ich kann, habe ich dort gelernt …“
Sir Darren fiel es wie Schuppen von den Augen. Der Zusammenhang war plötzlich da! Adolf Hitler hatte als Gefreiter am ersten Weltkrieg teilgenommen. Als er bei einem Senfgasangriff schwer verletzt wurde, brachte man ihn ins Militärlazarett. Nach Pasewalk in Pommern. Dort erfuhr er wenig später von der Kapitulation der Deutschen und erlitt einen schweren Hysterieanfall, der sogar zu seiner kurzzeitigen Erblindung führte.
Für einen kurzen Moment zog Sir Darren die groteske Möglichkeit in Betracht, der Mann vor ihm könne tatsächlich Hitler sein. Nicht in Fleisch und Blut natürlich, aber sein Geist, seine Erinnerung, irgendetwas.
Der Gedanke ließ sich wegschieben, aber nicht völlig auslöschen. Wie ein mit farbiger Kreide unter starkem Druck geschriebener Tafeltext schimmerte er weiter durch, wie oft man auch mit dem Schwamm darüber ging.
Der Gequälte auf dem Operationstisch stöhnte noch immer. Seine Stimme war schwächer geworden, hohler. Blut sickerte beständig aus seiner Wunde, tränkte die Tücher.
„Wissen Sie“, sagte der Arzt, einen abschätzigen Blick auf den Liegenden werfend, „ich denke nach, ob ich ihn retten will, oder ob es moralischer ist, ihm seinen Tod zu gestatten. Er ist … unwürdiges Leben. Ihn sterben zu lassen, wäre eine Gnadentat.“
„Worunter leidet er?“, erkundigte sich Sir Darren mit gespielter Sachlichkeit. Sein Mund war so trocken,
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