Falkengrund Nr. 30
schwebte. Wer immer diesen Mann so zugerichtet hatte, befand sich vermutlich noch im Haus. Obwohl es den Dozenten eine nahezu unmenschliche Überwindung kostete, näherte er sich dem Operationstisch und streckte die Hand aus. Mit angehaltenem Atem und ohne den Blick von dem Gequälten zu lösen, nahm er ein langes Skalpell an sich.
Das Messer schien sich in seiner zitternden Hand zu schütteln, doch seine Finger umklammerten es krampfhaft. Hilflos stand er vor dem Operationstisch. Es gab nichts, was er tun konnte. Er spielte mit dem Gedanken, unter den Tüchern nach den Fesseln zu suchen und sie zu durchtrennen. Doch würde er dem Mann damit wirklich einen Gefallen tun? Die Vorstellung eines von Schmerzen rasend gewordenen Patienten, der mit geöffnetem Bauch vom Tisch rutschte und sich zu einem zappelnden, zuckenden, auf seinen eigenen Innereien ausgleitenden Fluchtversuch durchs Haus hinreißen ließ, machte, dass ihm das Blut in den Adern gefror.
Der Liegende war ungewöhnlich behaart, die Haut von kräftiger olivbrauner Färbung wie bei einem Südeuropäer. Der Bauch war nicht rasiert worden, ehe man ihn aufschnitt.
Wie lange lag der Mann schon so da? Der Keim einer Hoffnung, nur, um die Angst zu unterdrücken: War der Arzt vielleicht nur kurz hinausgegangen, um etwas zu besorgen? Antwort von Radio Eriwan: Im Prinzip ja. Aber falls der Arzt Spaß dabei empfand, ihn in dieser schrecklichen Lage zu belassen, wer wollte es verhindern? Von der Decke blätterte Farbe, und es war nur eine Frage der Zeit, bis etwas davon auch in die Wunde fiel.
Das Haus auf schnellstem Wege zu verlassen und die Polizei zu rufen, war die beste Lösung, zweifellos. Bestimmt war der Unglückliche noch zu retten, sein Blutverlust noch nicht tödlich, seine Wunde noch nicht entzündet, sein Verstand noch mit mehreren Fäden an seinem Kopf befestigt.
Sir Darren wandte sich zur Tür. Ihm fiel auf, dass in der Ecke ein Papierkorb stand, der überquoll. Die dort weggeworfenen großen Blätter waren von blauer Farbe. Offenbar handelte es sich um die Poster, deren Reste überall im Haus zu finden waren. Seine Neugier war groß, aber nicht groß genug, um im Papierkorb zu wühlen. Elementar war es, in den nächsten Sekunden aus dieser Klinik zu fliehen, ehe sie für ihn zu einer Todesfalle wurde.
Wie elementar, erfuhr er, als er auf die Tür zulief – und zurückprallte.
Im Gang tauchte eine Gestalt auf, versperrte ihm den Weg. Sie war eher klein, trug grüne Kleidung, wie sie im OP üblich war, dazu die obligatorische Kopfbedeckung und einen Mundschutz. Kleine dunkle Augen starrten den Besucher feindselig an, und durch den Mundschutz hindurch schimmerte ein schwarzer Oberlippenbart, der nicht viel anderes war als ein quadratischer Fleck unterhalb der Nase. Da Adolf Hitler einen solchen Bart getragen hatte, war er nach 1945 schlagartig aus der Mode gekommen. Wer sich heute noch seinen Bart so zurechtschnitt, nahm es in Kauf, erschrockene Blicke auf sich zu ziehen.
„Oh, ein Assistent“, rief der Arzt aus.
Möglichkeit eins: Es war wirklich ein Mediziner, verloren, zurückgelassen, einsam in einer heruntergekommenen Klinik, wie der berühmte Japaner, der jahrzehntelang auf einer Insel ausgeharrt hatte, ohne zu erfahren, dass der Zweite Weltkrieg längst beendet war. Möglichkeit zwei war auf entsetzliche Weise realistischer: Es handelte sich um einen sadistischen Verbrecher, für den diese Verkleidung nicht mehr und nicht weniger bedeutete als einen enormen Lustgewinn.
„Sie schickt der Himmel. Nun ja, nicht der Himmel vielleicht …“ Das rollende R war unheimlich, und mit einiger Verspätung bemerkte der Dozent, dass sein Gegenüber nicht Englisch sprach, sondern sich der deutschen Sprache bediente. Da ihm Deutsch längst in Fleisch und Blut übergegangen war wie seine Muttersprache, war es ihm nicht gleich aufgefallen.
Sir Darren hob sein Skalpell. Der andere trug ebenfalls eines in der Hand. Es war voller Blut, und das galt auch für den Handschuh, den Ärmel und einen beträchtlichen Teil des Kittels.
„Können Sie das überhaupt richtig führen?“, wollte der schaurige Arzt wissen. Es klang aufrichtig spöttisch.
Der Brite schluckte. Eine Handvoll Irre liefen über diesen Planeten, die sich für Hitler hielten. Einen davon lernte er gerade kennen. In seinem Kopf arbeitete es in allen Richtungen. Wie war er auf diese Adresse gekommen? Und vor allem – wie kam er lebendig hier heraus?
Zunächst galt es, den Psychopathen zu
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