Falkengrund Nr. 31
niemand das Phänomen als Ganzes – jeder erlebte es anders.
Gret Haste sprach Rolf, ihren Vater, auf den verlorenen Schlüssel zur Dachkammer an. Rolf gehörte zu denen, die während der Zeit ihres ungewöhnlichen Exodus im Dorf geblieben waren. Hundertfünfzig Schweine und zehn Kühe machten seine Anwesenheit unerlässlich. Als Gret, ihre beiden Brüder und ihre Mutter an einem freundlichen Herbsttag mit hängenden Schultern durch die Tür kamen, nach vier Wochen Abwesenheit, saß Vater Rolf in einem Schaukelstuhl in der Diele und tat nichts als zu schaukeln. Ein Stapel mit zwanzig Tageszeitungen lag neben ihm auf dem Boden. Er hatte sie sauber aufeinandergelegt, denn er war ein ordentlicher Mensch, aber er hatte keine davon gelesen. Mutter dachte, dass die Arbeit ihn so müde gemacht haben musste, dass er keine Energie mehr zum Lesen hatte, und daran war sicher ein Körnchen Wahrheit. Doch die Erschöpfung, die in seinen dunkelblauen Augen stand, war etwas, was nicht von der Arbeit allein rühren konnte. Es war die Kraftlosigkeit eines Menschen, der Augenzeuge einer schrecklichen Katastrophe geworden ist. Oder etwas gesehen hat, was er niemandem erklären kann und was auch ihm niemand erklären wird.
„Wir sind da“, hatte Gret damals nur gesagt. Ihre Brüder schoben sich scheu hinter ihr vorbei ins Haus, und ihre Mutter starrte nur auf den Vater.
„Dann gehe jetzt ich“, antwortete Rolf anstelle einer Begrüßung.
Sie erschraken alle, denn es lag ein so endgültiger Klang in seiner Stimme, als wolle er seinen Tod ankündigen.
Aber Rolf Haste ging nirgendwohin. Nicht aus dem Haus und nicht aus dem Leben. Stiller und einsamer als je zuvor, aber ebenso gewissenhaft versah er seine tägliche Arbeit. Und Gret entdeckte irgendwann, dass die Tür zur Dachkammer verschlossen war. Sie hatte bisher nicht einmal gewusst, dass es dafür einen Schlüssel gab.
„Warum hast du die Kammer abgeschlossen?“, wollte sie wissen.
Rolf erwiderte: „Das habe ich nicht.“
„Wo ist der Schlüssel?“, blieb die Tochter hartnäckig.
„Vielleicht klemmt sie nur.“ Das war alles, was er je zu dem Thema sagte. Allen anderen Fragen begegnete er mit eisigem Schweigen.
Monate lang bewahrte Gret ihren Respekt vor der verschlossenen Tür. Sie hatte alle Schränke und Schubladen nach dem Schlüssel durchsucht, ohne Erfolg. Sie machte halbherzige Versuche, die Tür mit Gewalt aufzustoßen – halbherzig deshalb, weil sie fürchtete, dass ihr Vater es nicht gutheißen würde, wenn sie dabei etwas demolierte.
Was befand sich überhaupt in der Kammer? In einer schlaflosen Nacht fertigte die junge Frau eine Liste der Dinge an, an die sie sich erinnern konnte. Ein alter Spiegel beispielsweise, eine Kiste mit eingetrockneten Ölfarben und ein Karton voller Kinderbücher. Dann fiel ihr auf, dass diese Gegenstände längst an anderen Stellen im Haus aufgetaucht waren. Der Spiegel hing jetzt unten in dem kurzen Flur, der das Haus mit dem Stall verband. Die Ölfarben hatte sie im Mülleimer gesehen, kurz nachdem sie zurückgekehrt war, und die Kinderbücher standen wieder ganz hinten im Bücherregal ihres älteren Bruders Kai.
„Du warst in der Kammer“, herrschte Gret Kai an. „Wo ist der Schlüssel?“
„Was?“, machte der Bruder überrascht, zuckte die Schultern und begab sich wieder an die Arbeit. „Die spinnt“, hörte man ihn später brummeln. Er brummelte oft während der Arbeit in den Ställen, aber niemals hatte ihn jemand „Die spinnt“ sagen hören.
In der Tat gab es noch eine andere Erklärung dafür, dass die Gegenstände sich jetzt an anderen Stellen im Haus befanden: Ehe die Dachkammer verschlossen worden war, musste jemand darin Platz geschaffen haben. Dabei hatte er die diversen Dinge im Haus verteilt. Vater? Sie wagte nicht, ihn zu fragen. Man redete ohnehin nicht mehr viel miteinander, auch nicht innerhalb der Familie. Was man auch sagte, es wurde aufgenommen, als wäre es ein persönlicher Angriff.
Falls jemand in der Kammer Platz gemacht hatte, dann stellte sich die Frage, wofür.
Nicht nur die Menschen hatten sich verändert. Auch die Tiere waren nicht mehr dieselben. Die Schweine wurden mit der Hälfte von dem satt, was sie früher gefressen hatten. Klar, dass sie dabei langsam abmagerten. Ihre Blicke hatten etwas beängstigend Starres an sich, etwas Wissendes , als hätten sie mehr über die Welt und das Leben verstanden, als ein Mensch es jemals vermochte. Einige von ihnen waren vollkommen
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