Falkengrund Nr. 31
dunkelrotes Wabern zu erkennen war. Die Anzeigenfelder gingen ineinander über, bewegten sich wie lebende Wesen über das gesamte Gerät, meistens gemächlich, bisweilen aber auch blitzartig schnell.
„Vater“, formte ihre vom Alkohol schwere Zunge die Laute im Selbstgespräch, „was hast du da … ins Haus gelassen …?“
Je länger sie hinsah, desto sicherer wurde sie, dass der weiße Anzug mehr eine Haut als ein Kleidungsstück war. Dass ein Mensch, der hineinschlüpfte, gänzlich darin verschwinden würde. Und dann erst fiel ihr etwas auf, was eigentlich offensichtlich war.
In eine Haut, die keine Öffnungen aufwies, konnte man nicht schlüpfen.
Man musste … hineingeboren werden.
In dieser Nacht stürzte Gret Haste die Treppe hinunter, brach sich dabei den rechten Unterarm und zog sich zahlreiche Prellungen und eine leichte Gehirnerschütterung zu. Später würde sie sich nicht mehr an den Hergang erinnern können. War sie bei dem Anblick des Kammerinneren vor Schreck zurückgeprallt und hatte das Gleichgewicht verloren? Oder hatte sie jemand gestoßen? Oder war der Sturz das erste Glied in der Kausalkette gewesen? Hatte sie die schlaffe weiße Menschenhaut und die fremden Maschinen in der Dachkammer ihres Hauses geträumt, während sie ohnmächtig am Fuß der Treppe lag?
Jedenfalls war sie ihrem Vater dankbar, dass er seine Prinzipien – und die des ganzen Dorfes – brach und einen Krankenwagen herbeirief, der Gret in eine dreißig Kilometer entfernte Klinik brachte. Sie erholte sich rasch, und als sie nach Hause zurückkehrte, war die Tür zur Dachkammer vernagelt.
„Hast du die Maschine gesehen?“, wollte sie von ihrem Vater wissen, während sie gedankenverloren über die neuen Bretter strich. Sie machten einen stabilen Eindruck. „Und die weiße Haut?“
„Du solltest weniger trinken“, lautete seine Antwort. „Und nachts solltest du in deinem Bett bleiben und nicht einen solchen Radau veranstalten.“
Er wirkte ruhig, aber streng. Und er hatte recht. Deshalb nahm sie sich fest vor, sich an seine Worte zu halten. Aber seine Augen sagten noch mehr als sein Mund. Seine Augen sprachen zu ihr: Du bist jetzt eine von uns. Von denen, die zurückgeblieben sind. Denn du hast gesehen, was wir auch gesehen haben. Wenigstens einen Teil davon.
Und mit verwunderten Blicken und angehobenen Schultern stellte sie eine Frage, die ungefähr so klang: Wieso dürfen wir nicht offen darüber reden?
Der Vater legte die Stirn in ein Gebirge aus Falten. Mehr tat er nicht. Gret kam zu dem Schluss, dass es sich nicht um eines der Geheimnisse handelte, deren Verheimlichung einen bestimmten Sinn hatte oder einen Zweck erfüllte. Vielmehr war es eines der Mysterien des Lebens selber, so tief und einschneidend, dass es einen Menschen mit Scham oder Angst erfüllte, es in der Öffentlichkeit zu diskutieren.
Damit befanden sich die Maschine und das weiße Kleidungsstück, das wie eine Haut war, in einer Kategorie mit so heiklen Themen wie Sexualität oder Tod.
Sie fragte sich, ob seinerzeit nur jene im Dorf geblieben waren, die es ertrugen, dieses Mysterium mit eigenen Augen zu erblicken. Oder ob alles nur Zufall gewesen war.
Was würde die Zukunft für Friedlichten bringen?
3
Er unternahm all das, was Menschen unternahmen, die nichts Bestimmtes zu tun haben.
Artur Leik reiste ziellos durch Deutschland, ohne sich dabei dem Schwarzwald auf mehr als hundert Kilometer zu nähern. Schloss Falkengrund war eine Hoffnung für ihn gewesen, sich mit Menschen auszutauschen, die – wie er – anders waren. Innerhalb eines halben Jahres hatte er einsehen müssen, dass dies alleine keine Basis für ein harmonisches Verhältnis zueinander darstellte. Im Anderssein dieser Menschen gab es keine Gleichheit, keine Gemeinsamkeiten und Ansatzpunkte. Ruhe hatte er auf Falkengrund nicht gefunden. Mit Melanie und Madoka hatte er zwei Frauen kennen gelernt, die ihm etwas bedeuteten, doch er war ihnen nicht wirklich nahe gekommen. Die turbulenten Umstände hatten ihnen keine Gelegenheit gelassen. Und dann war er aus der Schule vertrieben worden, von Isabel, einer verrückten Gothic-Frau, die ihn liebte und ihn deshalb von Falkengrund verjagte, denn eher wollte sie sich und ihn ins Unglück stürzen als Melanie oder Madoka im Kampf um ihn zu unterliegen.
Ein Stück Wahnsinn, symptomatisch für alles, was auf Falkengrund vorging.
Jetzt, wo er wieder alleine war, hatten sich die Dinge vereinfacht. Und während seiner Reisen kam er zu
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