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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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der Erkenntnis, dass das Glück, das er suchte, auch in dieser Einfachheit stecken konnte. Vielleicht war es nicht schön, einsam und ohne Ziel durch die Welt zu streifen, like a rolling stone , aber es hatte doch auch etwas Beruhigendes an sich.
    Sein Schutzgeist war wieder in ihm, bewahrte ihn vor Gefahren. Lange Zeit war das sein Leben gewesen, und vielleicht gehörte das einfach zu seinem Schicksal. Vielleicht hatte er zu viel gewollt – zu seinem Schutzgeist noch Freunde, eine Partnerin … Auch Madoka hatte einen Schutzgeist gehabt, und sie war einsam gewesen wie er. Sie hatte den ihren vernichtet, indem sie einen Selbstmordversuch unternahm. Er würde so etwas nicht tun. Dazu war er nicht unglücklich genug.
    Diese Erkenntnis gefiel ihm. Er war nicht unglücklich genug, um sich zu töten. Bedeutete das nicht schon eine Art von Glück? Konnte man überhaupt mehr vom Leben erwarten?
    Artur verbrachte viel Zeit in Zügen und auf Bahnhöfen, übernachtete in billigen Herbergen oder bei der Bahnhofsmission. Mal zog es ihn nach Sachsen, wo er herkam, mal weiter in den Norden. In den letzten Tagen bewegte er sich von Mecklenburg-Vorpommern aus immer weiter nach Westen, ohne recht zu wissen, warum. Die karge, eintönige Landschaft des winterlichen Nordens hypnotisierte ihn, gab ihm das Gefühl, auf einer unendlichen Ebene unterwegs zu sein, ohne Grenzen, vollkommen frei. Vielleicht waren ihm im Schwarzwald einfach die Berge nicht bekommen, hatten ihn zu sehr eingeengt.
    An diesem Tag, einem bedeckten, dunklen Samstag im Februar, saß er im ICE zwischen Bremen und Oldenburg. Wie immer las er nicht, sondern sah aus dem Fenster. Wenn andere Fahrgäste in seine Nähe kamen, wurde sein Schutzgeist aktiv, und Artur beobachtete scheu in den Spiegelungen auf dem Fenster, wie die Menschen kurz schauderten, wenn der Geist sie für einen Moment durchfloss und prüfte.
    Als der Zug in den modern wirkenden Bahnhof Oldenburg einfuhr, fragte sich Artur, ob er hier ein paar Tage bleiben sollte. Unentschlossen stieg er aus, kaufte sich im Bahnhofsimbiss ein Käsebrot und eine Cola und trat kauend ein paar Schritte auf den Bahnhofsvorplatz hinaus. Ein Meer aus Fahrrädern erstreckte sich vor ihm.
    In der Hauptsache junge Leute waren es, die unermüdlich noch weitere Fahrräder dazustellten. Studenten vermutlich. Er sah ihnen eine Weile zu, bis ihm in einiger Entfernung eine junge, sehr dünne Asiatin auffiel. Sie lehnte ihr Rad gegen ein anderes, ohne es abzuschließen, und lief dann auf den Bahnhof zu, also in seine Richtung.
    Sie sah Madoka Andô zum Verwechseln ähnlich.
    Sein Herz schlug schneller. Zu dem Zeitpunkt, als er Falkengrund verlassen hatte, hatte sich Madoka in Japan aufgehalten. Natürlich konnte sie inzwischen längst wieder in Deutschland sein, aber was suchte sie ausgerechnet hier in Oldenburg?
    Sie war im Begriff, etwa zehn Meter rechts von ihm vorbeizugehen, und er konnte gar nicht anders, als seinen Koffer zu nehmen und auf sie zuzulaufen. Noch wagte er nicht, ihren Namen zu rufen. Menschen konnten sich manchmal sehr ähnlich sein, vor allem, wenn es um Angehörige fremder Rassen ging, für deren feine Charakteristika man noch keinen Blick entwickelt hatte. Ein Chinese hatte Artur einmal erklärt, alle Europäer sähen für ihn gleich aus, und er selbst musste gestehen, dass er die meisten Ostasiaten wohl nur schwer auseinanderhalten konnte.
    Aber Madoka? Dieses Mädchen, das er so aufmerksam betrachtet hatte?
    „Madoka?“, fragte er jetzt, noch etwas zurückhaltend.
    Sie lief an ihm vorbei, ohne zu reagieren. Also doch eine Doppelgängerin? Oder war sie in Gedanken und hatte ihn nicht gehört? Er ging hinter ihr her, und das fiel ihm erstaunlich schwer, denn obwohl sie nicht rannte, bewegte sie sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf das linke Eingangstor zu, huschte hindurch und verschwand im Inneren des Bahnhofs. Artur, dessen Koffer ihm selten so schwer vorgekommen war, lief ihr nach.
    Eine Familie mit fünf kleinen Kindern und mindestens zehn Taschen blockierte jetzt den Eingang, so dass er eines der anderen Tore nahm. Eine schwache Panik breitete sich in ihm aus. Es war fünf Uhr nachmittags, die Rushhour hatte begonnen, und die Bahnhofshalle wimmelte von Menschen. Für einige Sekunden hatte er die Asiatin völlig aus dem Blickfeld verloren. Schnell kombinierte er. So eilig, wie sie es hatte, versuchte sie bestimmt einen Zug zu erreichen. Vor den Fahrkartenautomaten oder an den Schaltern stand sie

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