Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
war.
    Schafft man es, die Einheimischen zu einem Kommentar zu bewegen, so bekommt man es so dargestellt, als handle es sich um reinen Zufall. Die einen traten angeblich gerade eine Urlaubsreise an, die anderen besuchten Verwandte, wieder andere hielten sich geschäftlich außerhalb des Ortes auf. Die letzte Gruppe hat es sogar aufgegeben, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Diese Leute zucken nur mit den Schultern und sehen zur Seite, ins Leere, bis der Fragende schließlich weggeht.
    Nur wenige Menschen waren damals im Ort zurückgeblieben – gerade so viele, wie notwendig waren, um den Betrieb auf den Höfen nicht ganz zusammenbrechen zu lassen. In der Nähe von Friedlichten gibt es keine Industrie, das Dorf lebt in der Hauptsache von der Schweinezucht, und einen Hof kann man nicht wochenlang einfach verlassen, wie man es mit einer Fabrik tun könnte.
    Diejenigen, die zurückblieben, um nach dem Rechten zu sehen, veränderten sich. Wenigstens ist das die Version der anderen, die etwa drei Wochen später nach und nach in den Ort zurückkehrten. Man sagt, die Menschen, die einsam auf den Höfen für die Schweine sorgten, wären in dieser Zeit rasch gealtert und hätten Krankheiten entwickelt, physischer und psychischer Art. Man sagt, sie schliefen danach schlechter, wachten nachts in öligen Schweiß gebadet auf, schrien manchmal im Schlaf auf. Und es wird behauptet, mancher von ihnen hätte begonnen, ein Tagebuch zu schreiben, um mit dem fertig zu werden, was er gesehen oder erlebt hatte. Ein Tagebuch, das er stets gut versteckt hält.
    Die Dorfgemeinschaft war nie die beste gewesen, aber nach dem Einschnitt war sie vollends zerbrochen. Menschen stierten sich feindselig an, wenn sie sich auf den weiten, leeren Straßen begegneten. Sie schickten die Kinder hinaus, um Besorgungen zu machen, als wäre es den Erwachsenen peinlich, sich unter die Augen zu treten. Man verzichtete darauf, sich zu besuchen, Markttage waren gefüllt mit schiefen Blicken und unangenehmem Schweigen, und langsam verschwanden sie, ohne dass sie jemand offiziell abgeschafft hätte. Leute, die niemals Gemüse angebaut hatten, begannen plötzlich damit, und das nur, damit sie keines mehr zu kaufen brauchten. Andere gewöhnten sich einfach ab, welches zu essen. Ein gesellschaftliches Leben existierte nicht mehr. Man nahm Opfer auf sich, um alleine vor sich hin leben zu können.
    Die alten roten Ziegelhäuser waren groß, wirkten in ihrer plumpen Schlichtheit fast aufgeblasen. Die geduckten unglücklichen Menschen, die sie bewohnten, füllten sie nicht aus, und die Bauwerke waren wie zu weite Kleidungsstücke für sie. In früheren Jahrzehnten hatten sich die Häuser dem Moor zugewandt, zögerlich, wie man sich einem schlechten Freund zuwendet, ihre kleinen Fenster wie skeptisch verengte Augen. Das Moor hatte sie bedroht und gesegnet. Doch das Torfstechen hatte man vor zwanzig Jahren aufgegeben und sich ganz der Viehzucht verschrieben. Seither hatten sich die Häuser quasi umgedreht, vom Moor weg orientiert. Hintertüren waren zu Vordertüren geworden, ehemalige Hausfronten waren verkommen. Heute allerdings verschlossen sich auch die neuen Vorderseiten, und es gab keine Richtung mehr, in die die Häuser sich drehen konnten. Also wandten sie sich nach innen, wurden zu kleinen Festungen, zu Schneckenhäusern aus Stein.
    Ein Radweg führt unweit von Friedlichten am Rande des Moors vorbei. Da man im Münsterland eine Menge tut, um Radtouristen anzulocken und zufrieden zu stellen, nimmt ihre Zahl Jahr für Jahr zu. Scherzend treten sie in die Pedale, machen sich gegenseitig mit gruseligen Moorgeschichten Angst und halten ihr Picknick an den verrücktesten Stellen.
    Manche von ihnen kamen immer wieder, und wenn sie den ausgeschilderten Weg verließen und einen Abstecher nach Friedlichten machten, müssen sie sich gefragt haben, was mit dem Dorf geschehen war. Waren es die viel kritisierten Atomtransporte, die die Bewohner dazu veranlassten, sich in ihren Häusern zu verkriechen, mit geschlossenen Läden, aus Angst vor der Strahlung? Oder lebte hier einfach nur ein besonders frostiger Menschenschlag?
    Was geschehen war, war geschehen. Es machte keinen Sinn, es Außenstehenden erklären zu wollen.
    Zumal den Bewohnern von Friedlichten das Schlimmste noch bevorstand.

2
    Als sie ins Dorf zurückkehrten, gab es auf einmal verschlossene Türen in den Häusern. Jedes Gebäude hatte ein oder zwei davon. Da die Leute nicht miteinander darüber redeten, sah

Weitere Kostenlose Bücher