Falkengrund Nr. 31
ersten Halt an, einen kleinen Bahnhof namens Sandkrug. Artur blieb im Zug, lehnte sich jedoch aus der Tür und versuchte zu erkennen, ob seine Madoka ausstieg. Er war ziemlich sicher, dass sie nicht unter den Fahrgästen war, die die Bahn verließen, aber es waren zu viele und der Zug zu lang, um hundertprozentig sicher zu sein. Allmählich begann er sich damit abzufinden, dass er sie verloren hatte. Wo und wie, das spielte keine Rolle.
Im Nachhinein kam ihm seine Aktion sehr blauäugig vor. Er betrachtete ein rothaariges Mädchen, das mit geschlossenen Augen einem mp3-Player lauschte und ein wenig wie Melanie aussah. Wahrscheinlich begann er überall Madokas und Melanies zu sehen, kleine, unscheinbare Wahnvorstellungen. Er musste auf der Hut sein, durfte den Kontakt zur Realität nicht verlieren.
Er setzte sich auf einen freien Platz dem rothaarigen Mädchen gegenüber (das bei genauem Hinsehen viel pummeliger war als Melanie). Melancholisch blickte er in die Dämmerung hinaus. Immer weniger war von dem trüben Himmel und der flachen Landschaft zu erkennen. Je dunkler es draußen wurde, desto klarer spiegelte sich das Zuginnere in den Scheiben.
Das weiche Ruckeln der Bahn machte ihn schläfrig. und er döste ein wenig vor sich hin, als ihn plötzlich ein Bild aufschreckte. Im Fenster reflektierte eine Art Fratze, schräg hinter ihm. Das Wesen sah aus wie eine Mischung aus Mensch und Wolf. Unwillkürlich versteifte sich sein Körper, seine Füße schnappten nach vorne und verpassten den Beinen des Mädchens einen heftigen Stoß. Die Rothaarige fuhr hoch und schrie.
Artur entschuldigte sich unterwürfig. Er hielt Ausschau nach der Wolfsfratze, aber sie war nirgends zu entdecken. Nicht im Fenster, nicht im Wageninneren. Auch schienen die anderen Fahrgäste nichts Ungewöhnliches gesehen zu haben. Sie schwiegen weiter vor sich hin, lasen Zeitungen oder stierten ins Leere. Nur das Mädchen ihm gegenüber funkelte ihn voller Zorn an und massierte sich die schmerzenden Schienbeine.
Er bat noch einmal um Verzeihung und stand dann auf, um sich einen anderen Platz zu suchen. Er wollte nicht, dass das Mädchen sich umsetzen musste. Ich habe Halluzinationen , dachte er. Erst Madoka, dann dieses Wolfsgeschöpf. War es möglich, dass es die Asiatin überhaupt nicht gegeben hatte? Dass er nicht nur eine Ähnlichkeit sah, wo keine war, sondern sie sich vollständig einbildete? Das würde natürlich erklären, warum sie verschwunden war, als er sie suchte.
Sein Kopf schmerzte ein wenig. Auf einem Viererplatz saß eine Frau mit zwei kleinen Jungen. Einer der Jungen vertrieb sich die Zeit damit, dass er die Fensterscheibe anhauchte und auf das beschlagene Glas kleine Bilder malte, Menschen, Häuser, und viele Dinge, die man nicht erkennen konnte … Artur schätzte ihn auf vier Jahre und beobachtete ihn, während er den freien Platz neben der Mutter einnahm.
Nach einigen Minuten sah er, dass der Junge etwas schrieb.
„FRIEDLICHTEN“, malte er in krakeligen Großbuchstaben auf die Scheibe.
„Ist das der Name einer Ortschaft?“, fragte Artur gutmütig, um ein bisschen belanglose Konversation zu machen. Etwas banaler Alltag konnte ihm nicht schaden. Vermutlich hatte er in den letzten Monaten zu wenig davon gehabt.
„Was meinen Sie?“, sagte die Mutter.
„Friedlichten. Das Wort, das Ihr Junge geschrieben hat.“
Die Frau sah ihn mit großen Augen an. Dann meinte sie langsam und mit so etwas wie Tadel in der Stimme: „Daniel ist ein ganz normales Kind. Und er ist gerade vier geworden. Schreiben kann er noch nicht.“
„Aber …“ Artur sah noch einmal hin, und da waren keine Buchstaben mehr. Daniel, der die Aufmerksamkeit des Fremden sichtlich genoss, hatte die Scheibe ruckzuck mit seinem Ärmel abgewischt, erneut angehaucht und eine frische Zeichnung gefertigt. Stolz zeigte er jetzt auf eine schiefe Ellipse mit ein paar Strichen darin. „Katze“, verkündete er.
So viel zum Thema Halluzinationen , dachte Artur. Beinahe trotzig sagte er: „Und einen Ort namens Friedlichten gibt es nicht zufällig trotzdem?“
„Hab’ ich nie gehört“, erwiderte die Mutter leicht abweisend.
Artur konnte stur sein, wenn er wollte. Die Sache ließ ihn nicht los. Das Wolfswesen akzeptierte er ohne weiteres als Einbildung – schließlich war er ein wenig eingenickt und frisch aus dem Schlaf geschreckt, als er es undeutlich in der Scheibe sah. So etwas konnte jedem passieren, und wahrscheinlich hatten die Schlafforscher sogar
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