Falkengrund Nr. 31
junge Frau, eine Asiatin. Haben Sie gesehen, wo sie hinging?“ Was für eine dumme Frage! Sie konnte ja nur in die entgegengesetzte Richtung verschwunden sein, sonst wäre sie ja an ihm vorbeigekommen.
„Sie sind ein Witzbold“, meinte die eine Dame. Ihre silbernen Haare hatten einen violetten Stich, und sie war auch ganz in Lila gekleidet. „Hier stand niemand.“
Die Antwort beunruhigte ihn kaum. Die beiden hatten nur ihn angestarrt, was kein Wunder war. Ein junger Mann, der wie verrückt an die Scheibe klopfte, musste für sie ein interessanterer Anblick gewesen sein als die unscheinbare Asiatin, deren Gesicht fast völlig unter ihren langen schwarzen Haaren verborgen lag.
Moment! Lange Haare? Nun griff eine eisige Hand nach Artur. Hatte Melanie ihm nicht erzählt, dass Madoka gleich nach ihrer Ankunft in Japan ihre Haare abgeschnitten hatte und jetzt eine ultrakurze Frisur trug? Da er selbst sie nie so gesehen hatte, war ihm das Detail kurzzeitig entfallen.
Also doch eine Doppelgängerin? Aber wo war sie? Er musste sie einmal in Ruhe aus der Nähe sehen, um sich zu vergewissern, dass er sich tatsächlich geirrt hatte.
Aufgewühlt ging er durch den Zug, ließ seine Blicke über die Fahrgäste schweifen, denn er nahm an, dass sie sich irgendwo einen Sitzplatz gesucht hatte. Nach drei Minuten kam er am vorderen Ende des Zuges an. Er hatte sie nicht ausfindig machen können.
Die Toiletten fielen ihm ein. Dort hatte er nicht nachgesehen. Er kämmte den Zug noch einmal von der anderen Seite her durch, sah auch in den Toiletten nach. Die meisten waren frei, und bei einer, die besetzt war, wartete er einige Minuten, bis der Riegel geöffnet wurde und ein großgewachsener Mann sich durch die enge und niedrige Tür schob. Hier war sie also auch nicht. Aber sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!
Es gab nur zwei vernünftige Erklärungen: Entweder, er hatte sie übersehen, oder … sie war ebenso überstürzt ausgestiegen, wie er eingestiegen war. Allerdings hätte sie dazu schon unvorstellbar schnell sein müssen. Als er sich draußen von ihrem Anblick löste und in Richtung auf die sich schließende Tür losjoggte, hatte es noch keine Anzeichen dafür gegeben, dass sie ihn überhaupt wahrgenommen hatte.
Seine Skepsis kam wieder durch, und er fragte sich, ob sie ihn wohl an der Nase herumführte. Madoka war ein geheimnisvolles Wesen. Führte sie etwas im Schilde? War sie absichtlich hier aufgetaucht und … Nein, niemand konnte gewusst haben, dass er heute nach Oldenburg fuhr. Er hatte sich ja selbst erst im Laufe des Mittags spontan dazu entschlossen.
Er durchsuchte weiter die Bahn, und es war nicht zu vermeiden, dass ihm dabei die Schaffnerin begegnete. Es war eine junge, walkürenhafte Frau mit einem sehr resolut wirkenden linken Mundwinkel. Sie war dabei, die Fahrkarten zu kontrollieren, und stellte sich ihm breitbeinig in den Weg, als er sich zerstreut an ihr vorbeizudrücken versuchte.
„Wo möchten Sie hin, junger Mann?“
„Ich …“ Die Frage, die so natürlich war, brachte ihn aus dem Konzept. „Ver-Verzeihen Sie. Gibt es in dieser Bahn eine Möglichkeit für einen Menschen, sich zu verstecken?“ Er hatte nun beinahe den ganzen Zug abgesucht, ohne die Gesuchte aufzuspüren.
„Verstecken? Wovor wollen Sie sich denn verstecken, hm?“
„Nein, nicht ich.“ Es war ein Missverständnis. „Ich suche jemanden, und …“
„Sie können gerne weiter hinten im Zug suchen“, sagte sie beinahe freundlich. Sie trat einen halben Schritt zur Seite, Artur ging los und … Ein eisenharter Griff schloss sich um seinen linken Oberarm. Sein Bizeps schmerzte darunter. „ Wenn Sie mir Ihre Fahrkarte zeigen“, vollendete sie den Satz, von dem er nicht einmal geahnt hatte, dass er unvollständig war.
„Meine Fahrkarte“, echote er und wand sich unter ihrem Griff. „Ich war eben im Begriff, mir eine zu kaufen. Am Automaten.“
„Wie weit fahren Sie denn?“
„Ich fahre bis …“ Er blinzelte. Jetzt fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, wohin die Bahn unterwegs war. Doch, er hatte ja die Anzeige gesehen, es war jene, die nach Süden fuhr, bis nach Osnabrück, ja, genau. „Bis Endstation, nach Osnabrück“, sagte er hastig und kramte in seiner Tasche nach dem Portemonnaie.
Langsam, sehr langsam, lockerte sich der Griff.
„Das macht 17,20 Euro.“
Artur entrichtete den Fahrpreis, die Schaffnerin stellte ihm das Ticket aus und wünschte ihm einen schönen Abend. Die Bahn fuhr den
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