Falkengrund Nr. 31
konnte.
„Ich glaube nicht, dass du eine Chance verdienst“, sagte der Fahrer. „Stattdessen nenne ich dir lieber meinen Namen und überlasse dir die Arbeit, allem eine Ordnung zu geben. Das ist nur gerecht, denn schließlich hast du diese Ordnung zerstört. Und Gerechtigkeit ist alles, wirklich alles – ganz gleich, was du darüber denkst. Ich heiße Lewerz, René Lewerz.“
2
René Lewerz war achtundzwanzig Jahre alt, hatte widerspenstige flachsblonde Haare und einen viel dunkleren Kinnbart. Sein Kopf war beinahe unnatürlich groß, sein Gesicht flach, die Hüfte schmal wie die eines unterernährten Kindes. Er war ein Mann, dessen Äußeres man nicht so schnell vergaß, und nur die Tatsache, dass er Gesicht und Körper in viel zu großen Kleidern verbarg, war verantwortlich dafür, dass Holgers Ullmanns flüchtig erhaschte Blicke nicht ausgereicht hatten, um ihn zu identifizieren.
Noch prägnanter als das Äußere war jedoch das Innere dieses Mannes, und das kannten wenige so gut wie Dr. Holger Ullmann.
Drei Aktenordner hatte er voll mit Lewerz, zwei blaue und einen weißen. Wenn er die Gedanken seiner schlaflosen Nächte aufgeschrieben hätte, die er in Zusammenhang mit diesem Kerl gehabt hatte, hätte er vermutlich noch einmal drei füllen können – Farbe egal.
Lewerz hatte nach einem Mord mit der Giftspritze elf Jahre in der Psychiatrie verbracht, im sogenannten Maßregelvollzug.
Verschiedene Formen von Schizophrenie waren festgestellt worden, ein so explosives und einzigartiges Gemisch, dass der Fall Erwähnung in medizinischen Fachzeitschriften fand. Und das mehr als einmal.
Holger hatte zunächst nichts damit zu tun gehabt – die ärztlichen Gutachten hatten andere angefertigt, und Lewerz war in einer Klinik im Ruhrgebiet untergebracht. Doch als es darum ging, die Möglichkeit einer Entlassung zu untersuchen, hatte man einen unabhängigen Gutachter gebraucht. Die Wahl war auf Holger Ullmann gefallen. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich also Fotokopien von Lewerz’ Tagebüchern – von den alten, den mit imaginären Gräueltaten gefüllten … und von den neuen, den scheinbar harmlosen, die René Lewerz in den letzten Jahren verfasst hatte. So verfasst, dass sie einer Entlassung dienlich sein würden.
Holger hatte sich viel Zeit für die Begutachtung genommen, hatte lange, ermüdende Gespräche und umfangreiche Tests mit dem Mann durchgeführt. Das Ergebnis war ein Dokument, das Holger später bereute, weil es nicht eindeutig genug war. Es sprach sich zwar dafür aus, den Maßregelvollzug für Lewerz fortzusetzen. Gleichzeitig enthielt der Text jedoch einige Punkte, die andeuteten, dass durch die Behandlung das Risiko eines Rückfalls immerhin gemindert worden sei.
Nie im Leben hätte Holger sich vorstellen können, wie vehement sich die anderen Gutachter in ihren Papieren für Lewerz’ Entlassung aussprachen. Ihre Schreiben waren glühende Pamphlete für die Freiheit dieses Mannes. Das Gericht kam schließlich zu dem Resultat, dass Dr. Ullmanns Gutachten den Argumenten für diese Entlassung nicht deutlich genug widersprach. Lewerz wurde nach elf Jahren und sieben Monaten Klinikaufenthalt in die Freiheit entlassen.
An dem Abend, an dem er es erfuhr, hatte Holger sich betrunken. Sofort stellte er sich darauf ein, bald wieder von Lewerz zu hören. Allerdings hatte er dabei an Artikel in der Presse gedacht. Artikel über einen neuen Mord oder Mordversuch des Geisteskranken. Wochenlang hatte Holger Ullmann sich sogar mit dem Gedanken getragen, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Dass es ihm nicht gelungen war, die Freilassung dieses gefährlichen Mannes zu verhindern, konnte und wollte er sich nicht verzeihen.
Doch der Berufsalltag mit seinen Anforderungen und Problemen wischte die Zweifel weg. Nach einigen Monaten waren die Selbstvorwürfe zu einem dumpfen Unwohlsein geworden, ähnlich, wie man sich an einen Ladendiebstahl in der Kindheit erinnert.
Und nun … bekam er die Rechnung präsentiert.
Lewerz wollte Rache.
Der Mann war nicht nur krank. Er war dazu noch hochintelligent. Das machte ihn so gefährlich. Und sein pervertiertes Verlangen, eine Gerechtigkeit herzustellen, die nur er sehen konnte, ließ ihn weder vergessen noch vergeben.
„Wie … haben Sie herausgefunden, wer der externe Gutachter war?“, keuchte Holger. „Solche Dinge werden doch geheim gehalten.“ Jetzt, etwa zwei Stunden nach seiner Entführung, befand er sich in den Kellerräumen eines alten Wohnhauses. Es
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