Falkengrund Nr. 31
Wolfswesen: Zum einen den Hundegeist, den er als Schutzengel in sich trug. Er erkannte ihn, obwohl er ihn so noch nie gesehen hatte. Doch – einmal hatte er ihn so gesehen, und das war das zweite, was er erkannte: Das Wolfsmonster, das sich im Zug nach Cloppenburg für einen Moment im Fenster gespiegelt hatte.
Es war niemand anderes als sein Schutzgeist gewesen.
Während die wolfgleiche Erscheinung auf die anderen Untoten zupreschte und unter ihnen wütete, begriff er die Zusammenhänge.
Auf dem Weg hierher hatte er drei Halluzinationen gehabt: Die Frau, die aussah wie Madoka und die ihn in den Zug lockte. Dann das Wolfswesen. Und schließlich den Namen, die ein vierjähriger Junge geschrieben zu haben schien: Friedlichten. Jemand hatte ihn hierher gelockt, und jetzt konnte gar kein Zweifel mehr bestehen, wer es gewesen war.
Sein Schutzgeist hatte es getan.
Sein Schutzgeist hatte ihn in Gefahr gebracht?
Nein , korrigierte er sich. Mir geschieht ja nichts.
Einen Untoten nach dem anderen vernichtete der Hundegeist. Schmieriges Ektoplasma hing an seinen Lefzen. Die Dorfbewohner schleppten sich an den Rand der Straße, suchten im Schatten der Häuser Schutz. Unnötig, denn der Geist wollte nichts von ihnen.
Ich bin hierhergekommen, damit ich diese Menschen retten kann? , überlegte Artur. Unvorstellbar! Der Geist hat sich nie darum gekümmert, was mit anderen geschieht. Er war immer nur für mich da.
„Artur!“, zerriss ein Schrei seine Überlegungen. Henning, schon ein ganzes Stück von ihm entfernt, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf einen Punkt am Ende der Straße.
Dort war eine Wand aufgetaucht. Keine steinerne Wand. Eine gewaltige, zwanzig, dreißig Meter hohe Mauer aus Metall. Eine enorme Maschine, ein Chaos aus wirren, flackernden Bewegungen, die über einen unordentlichen Untergrund aus Stahl tanzten. Ein Monstrum der Technik, ein Titan aus reiner Konfusion.
Was immer es ist , sagte sich Artur. Mein Schutzgeist wird mich davor bewahren. Er ist in ausgezeichneter Form.
Doch da irrte er sich.
Der Geist, der eben den letzten Untoten erledigt hatte, unternahm nicht einmal den Versuch, den Maschinenkoloss zu attackieren. Er kehrte an Arturs Seite zurück, wie ein treuer Hund (und was sonst war er?). Dort wartete er, ein durchscheinendes, wolfsartiges Spukwesen.
Die Maschine kam schnell näher. Artur stolperte ein paar Schritte zurück, dann gab er die Flucht auf. Er sah ein paar Schatten, die ruckartig vor der Maschine hin und her zuckten. Das waren sie also. Zum ersten Mal sah er sie mit eigenen Augen.
Dann brach die Maschine über ihn herein wie ein Gewitter, das direkt aus der Hölle kam. Das Chaos wuchs schlagartig so sehr an, dass der Verstand es nicht mehr verarbeiten konnte. Artur war es, als würden er und sein Schutzgeist separat ins Innere der Apparatur gesogen, körperlich, geistig oder auf irgendeine andere vorstellbare oder nicht vorstellbare Weise.
Sein Schutzgeist hatte das Unglück nicht abgewendet.
Im Gegenteil: Er hatte Artur geradewegs in sein Verderben geführt.
ENDE DER EPISODE
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Nr. 59 -
Abschied vom Leben
1
Oktober 2003
Steile, krumme Weinberge streckten ihre Traubenstöcke von sich wie ein aufgebrachter Igel seine Stacheln. Überall hingen Winzer in den Hängen, krochen mit ihren Geräten und Gefäßen auf und ab, Ameisen gleich, die ein Vielfaches ihres Körpergewichts trugen. Dichte Scharen schwarzer Vögel kreisten über der Szene, die Formen ihrer Schwärme änderten sich sekündlich, und wenn man ihre Schatten vor dem blauen Himmel verfolgte, konnte man den Eindruck haben, eine Art Feuerwerk dargeboten zu bekommen. Die Vögel fanden keine Ruhe, denn überall knallten die Platzpatronen, scheuchten sie von einem Ende des Anbaugebiets zum anderen.
Beim ersten Knall hatte Dr. Holger Ullmann an einen geplatzten Reifen gedacht, war rechts rangefahren und aus dem Wagen gesprungen. Das Krachen ging weiter, und er erkannte die wahre Ursache des Lärms. Erleichtert, schmunzelnd, zufrieden mit der Welt, lehnte er sich von außen gegen die Fahrertür und schaute dem Treiben eine Weile zu. Dann sah er auf die Uhr, hob in einer übertriebenen, gutgelaunten Geste die Augenbrauen und nahm wieder hinter dem Steuer Platz.
Zwanzig Minuten später hatte er die Villa am Neckar erreicht. Das Haus stand etwas abseits hinter buschigen Bäumen, und zwei der Außenwände waren von Efeu überwuchert. Danielas weißer Daewoo wartete bereits dort, ein wenig schief
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