Falkengrund Nr. 31
gab eine Zufahrt, durch die man die Souterrainräume direkt erreichen konnte. Holger war mittlerweile an einen stabilen Rollstuhl gefesselt worden, ein altes Modell, schwer und irgendwie bedrohlich. Der Stuhl stand in einem dunklen, feuchten, vollkommen leeren Raum, und Lewerz strich langsam um ihn herum. Die Bremsen waren nicht angezogen, so dass der Stuhl ein wenig vor und zurück ruckte, wenn der Arzt sich bewegte. Ein Funken vorgetäuschter Freiheit. An der Decke brannte eine Birne hinter einer verschmutzten Blende.
Die Knie des Psychiaters schmerzten noch immer höllisch – kein Zweifel, dass etwas Schlimmes, wahrscheinlich sogar Irreparables mit ihnen geschehen war. Als er aus dem Auto gehievt wurde, hatte er Lewerz angefleht, ihn gehen zu lassen, und dieser hatte ihn ohne Vorwarnung einfach losgelassen und gesagt: „Dann geh.“ Holger war auf der Stelle zusammengebrochen, denn seine Beine trugen ihn nicht mehr. Bei dem Sturz auf den steinernen Boden hatte er sich eine Platzwunde an der Schläfe zugezogen und war nun über und über mit getrocknetem Blut besudelt.
„Die Gerechtigkeit findet immer einen Weg“, referierte Lewerz. „Es ist alles nur eine Frage der Hartnäckigkeit. Menschen hadern mit ihren lächerlichen kleinen Göttern darüber, was richtig und falsch ist. Dabei müssten sie nur hartnäckig bleiben. Am Ende siegt immer das Gute.“
„Lewerz“, begann Holger. Er versuchte sich mehrmals den Hals frei zu husten, konnte den Frosch daraus jedoch nicht verjagen. „Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen, wirklich nicht! Sicher, wenn es nach mir gegangen wäre, würden Sie weiterhin … therapiert werden, aber … ich konnte mich ja nicht durchsetzen. Für Sie hat alles geklappt. Sie sind frei. Freuen Sie sich darüber! Es gibt keinen Grund, aufgebracht zu sein. Ich kann Ihnen nichts mehr anhaben. Meine Kompetenzen sind erschöpft. Wofür wollen Sie sich denn an mir rächen?“
Lewerz fixierte sein Gegenüber ernst und ein wenig väterlich, als wäre er ein Erwachsener, der einem Kind eine sehr wichtige Lehre über das Leben beibringen muss. „Komm schon, Seelendoktor, du bist bei weitem nicht so beschränkt wie du tust. Selbst du musst doch wissen, dass Rache und Gerechtigkeit zwei Paar Stiefel sind. Ich habe kein Interesse, mich an irgendjemanden zu rächen . Ich bin nicht aufgebracht . Mein Puls ist ruhig, was man von deinem nicht behaupten kann. Schau mal: Rächen ist etwas Persönliches. Eine primitive Leidenschaft. Barbarisch. Ich verachte sie zutiefst. Gerechtigkeit dagegen ist die Grundlage jeder Zivilisation. Dein Gutachten war ein verkorkstes, stümperhaftes, schludriges Stück Papier – und du weißt das sogar. Du wirst von mir nicht bestraft. Du wirst aus dem Verkehr gezogen, damit du keine ähnlichen Fehler mehr begehen kannst. Das ist gerecht.“ Lewerz fuhr den Rollstuhl einen Meter weit und ließ ihn dann wieder los. „Dass dein Geschreibsel sein lächerliches Ziel, mich bis zu meinem Lebensende festzusetzen, nicht erreicht hat, ist doch nur ein weiterer Beweis …“
„Ein Beweis … wofür?“
„Für das Wirken der Gerechtigkeit.“
Lewerz packte erneut die Griffe des Rollstuhls und schob Holger Ullmann mit dem Gesicht gegen die Wand. Eine kahle, graue Mauer.
„Lassen Sie mich frei“, bat Holger.
„Dasselbe habe ich zu dir auch gesagt, erinnerst du dich?“
Holger atmete tief durch. „Sie wollen mich also hier festhalten, in diesem Keller?“
„Nein“, antwortete Lewerz. „Das ist ein Missverständnis. Entschuldige, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe. Der Staat hat die Mittel, einen Verbrecher lebenslang durchzufüttern. Mir stehen diese finanziellen Möglichkeiten leider nicht zur Verfügung.“
Holger schnürte es die Kehle zu. Der Raum kam ihm plötzlich eiskalt vor.
„Wirf mal einen Blick nach unten“, befahl Lewerz.
Der Arzt betrachtete den unteren Teil der Wand, vor der sein Rollstuhl stand. In den Schatten konnte er dort eine Steckdose erkennen.
„Unglücklicherweise kann ich dir nicht mehr als die üblichen 230 Volt bieten. Dafür habe ich die Sicherung überbrückt, damit wir es gleich im ersten Versuch über die Bühne bringen“, sagte Lewerz. „Sonst könnte es eine Quälerei werden. Denk gut über meine Worte nach: Obwohl dir elf Jahre Leiden für mich zu kurz erschienen, wäre es mir unangenehm, dir ein paar Stunden davon zuzumuten. Einen Menschen, der so denkt, kann man schwerlich der Rache bezichtigen, oder? Nein, es soll
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