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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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geparkt, die Nase in der Sonne, wie immer. Holger stellte seinen Wagen dahinter. Zum Spaß tippte er das Heck des Daewoo sachte mit der Stoßstange an, sehr gefühlvoll, und grinste durch die Windschutzscheibe zu einem der Fenster hinauf, in der Hoffnung, dass Daniela das Motorengeräusch gehört hatte, dort stand und ebenso breit grinsend auf den Parkplatz herabsah.
    Der 49-jährige stieg aus, schloss ab und sog die Luft ein. Sie war perfekt nach einer trockenen Woche voller Papierkram und knisternden PC-Bildschirmen. Feucht und frisch von der Vegetation und dem nahen Fluss. Vor zwei Tagen hatte es in Strömen geregnet, und die Pflanzen waren noch einmal zu Kräften gekommen. Es sah aus, als würden sie es noch einmal wagen wollen, den Herbst, der sie aussaugte, zurückzudrängen. Ein letztes Aufbäumen der Natur. Wildromantisch.
    Zärtlich strich er über die Motorhaube von Danielas Auto. Eine Restwärme war zu spüren, wie in den Laken eines frisch verlassenen Bettes.
    Holger schlenderte durch den Garten, auf einem schmalen, gebogenen Pfad, der Haustür entgegen. Seine Lippen pfiffen Justin Timberlakes „Cry me a river“. Das Lied war auf der Herfahrt im Radio gelaufen.
    Es war ein Samstagvormittag, der Beginn eines weiteren traumhaften Wochenendes. Sie brauchten das, Daniela und er, diese Freiheit, Ungezwungenheit. Beide waren sie hart arbeitende Menschen, Träger von Verantwortung, ernsthaft, strebsam, zuverlässig, nicht mehr die Jüngsten, aber noch gut in Schuss. Sie ließen sich nicht gehen, gestatteten dem Alter nicht, ihre Körper formlos und phlegmatisch zu machen. Ihr Leben war voller Disziplin und Selbstbeherrschung. Sie waren intelligent, gewandt, welterfahren.
    Und so weiter.
    Allerdings: Ein bis zwei Tage in der Woche verwandelten sie sich in zwei ausgelassene Verliebte, die sich in der Abgeschiedenheit dieses verträumten Häuschens trafen, nur nach ihren Instinkten lebten und nach allen Regeln der Kunst füreinander entbrannten.
    Holger war ein namhafter Psychiater, einer der leitenden Ärzte an der Psychiatrischen Klinik Nürtingen. Daniela kam aus einer anderen Ecke, fachlich und räumlich. Sie war Immobilienmaklerin, wohnte in Sigmaringen und arbeitete … überall. 46 Jahre alt, erfolgreich, geistreich, gebildet – so ließ sie sich beschreiben, und sie erstrahlte förmlich mit den Reizen einer Frau, die Tag für Tag ihres Lebens nur reifte, anstatt zu altern. Beide waren sie ungebunden, beide hatten sie Scheidungen hinter sich, die lange genug zurücklagen und nüchtern genug abgewickelt worden waren, um nicht mehr weh zu tun.
    Holger rieb sich das frisch rasierte Kinn. In einer Minute würden sie sich um den Hals fallen, sich die Kleider vom Leib reißen wie zwei Teenager und Liebe machen – unmöglich zu sagen, in welchem Zimmer und auf welchem Untergrund, wie oft und in welchen Variationen. Danach würden sie einen Brunch einnehmen, moderat luxuriös, auf dem Balkon, träge und glücklich auf den Neckar hinausblicken, der Sonne bei ihrem Gang über den Himmel zusehen, etwas Mozart im Hintergrund, einen prickelnden Sekt in den Kristallkelchen. Und sie würden über Kunst und Kultur reden, über Literatur und Musik, vielleicht sogar über Politik, über alles, nur nicht über ihren beruflichen Alltag.
    Sie würden das Leben genießen, die Batterien auftanken.
    Die letzten fünf Meter zur Haustür wurden von zwei mannshohen Hecken gesäumt. Holger mochte diesen Winkel, wo der wildwuchernde Garten in etwas Ordentliches, Gerades überging. Er selbst war es, der dieses Gewächs im Frühjahr stutzte. Jetzt, wo er sich dem grünen Durchgang näherte, dachte er an die friedlichen Stunden, die er an diesem Ort schon verbracht hatte. Es schien beinahe, als könne man die einzelnen Tage der Vergangenheit, die Erinnerungen, herausriechen , wenn man sich nur ausreichend Zeit nahm.
    Dann ereignete sich etwas, was nicht im Geringsten an diesen Ort passte.
    Hinter der linken der beiden Hecken brach jäh eine Gestalt hervor. Komischerweise dachte Holger im ersten Moment an ein wildes Tier, so ungestüm war die Bewegung. Doch es war ein Mann, geduckt und mit einem grünen Parka bekleidet, dessen Kapuze er tief ins Gesicht gezogen hatte. Er hielt eine anderthalb Meter lange Eisenstange vor sich ausgestreckt, holte nun damit aus.
    Der Psychiater machte einen Ausweichversuch, doch es war der falsche. Er hatte sich geduckt, weil er annahm, die Stange würde seinen Kopf oder Oberkörper treffen. Der Mann

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