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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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zur Seite. So etwas hatte es wohl noch nicht gegeben, als er zum letzten Mal hier gewesen war. Unterhalb des Turmes gab es Überreste von einem Lagerfeuer. Er sah sich die Stelle lange und gründlich an, als suche er etwas.
    „Stimmt etwas nicht?“, fragte Mama.
    Nun entfernte er sich schnell von dem Ort, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging umher, wie es ein Tourist tun mochte, der die Ruine zum ersten Mal besuchte. Er tat so, als würde er nicht zu dem Turm aufblicken, aber Mama sah, dass er es ständig tat.
    „Du musst zur Ruhe kommen“, sagte sie sanft.
    „Da hast du recht“, erwiderte er. „Und es gibt nur einen Weg dazu.“ MacNorras kehrte zum Wagen zurück. Er öffnete den Kofferraum und holte ein dunkles Säckchen hervor, das ihr zuvor nicht aufgefallen war. Es musste unter ihrem Gepäck gelegen haben. Damit kam er wieder zu ihr, und als sie die Ausbeulung sah, dachte sie an eine Kameraausrüstung.
    „You know, my dear“, begann er, „das Modemachen ist ein hartes Geschäft. Ein Leben lang rennt man den Inspirationen hinterher, und nie weiß man, ob nicht jemand anderes die Idee schon früher hatte. Oder ob der Markt überhaupt akzeptiert, was man macht.“
    Sie antwortete nichts. Sie verstand nicht recht, was er sagen wollte. Ein Hauch von Gefahr lag in der Luft, ohne dass sie hätte sagen können, woher die Bedrohung kam. Seine Stimme klang eigentlich wie immer. War es seine Hand, die sich unnatürlich hart um das Säckchen schloss, dass die Knöchel weiß hervortraten?
    Er fuhr mit seinem Monolog fort. „Wenn man zehn Jahre lang gute Ideen hatte, ist das keine Garantie dafür, dass es in den nächsten zehn Jahren so weitergeht. Inspiration ist alles. Aber Inspiration kommt nicht aus einem selbst. Sie muss immer von außen kommen. Und wenn sie nicht von selbst kommt, dann muss man …“ Mit einer ruckartigen Bewegung zog er etwas aus dem Säckchen. „… dann muss man die richtigen Bedingungen schaffen.“
    Mamas Augen weiteten sich. Nevin hielt ein Messer in der Hand. Sie kannte es sogar. Es war das Brotmesser, das seine Köchin Lucy in der Küche verwendete. Es war scharf wie eine Rasierklinge, sie hatte selbst schon einmal damit geschnitten.
    Doch das Säckchen enthielt noch etwas anderes. Ungeschickt kramte er es nun mit der freien Hand heraus. Es waren Handschellen. Zwei Paar.
    „Nevin“, wisperte sie und sah sich um. Vielleicht hätte sie weglaufen können, aber sie wusste nicht, wie gut er mit dem Messer werfen konnte. Ihr Fleisch würde der scharfen Klinge kaum Widerstand leisten. Außerdem gab es im Umkreis von einigen Kilometern keine menschliche Behausung, niemanden, der ihr helfen konnte.
    MacNorras warf ihr die Handschellen vor die Füße. „Die linke Hand und den rechten Fuß zusammenschließen“, befahl er. Seine Stimme klang nicht böse, nur bestimmt. „Und dann die rechte Hand und den linken Fuß. Du wirst dich dazu hinsetzen müssen. Da drüben sind flache Steine.“
    Mama blieb stehen. „Was soll das werden, Nevin?“, fragte sie gedämpft, so, dass er sie eben noch hören konnte. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, hatte plötzlich etwas Grausames an sich. Die Steine, von denen er gesprochen hatte, befanden sich genau am Fuße des Turms.
    Er lachte. „Dir das zu erklären, ist sinnlos. Du würdest es nicht verstehen.“
    „Warum willst du mich umbringen? Du hast nichts davon.“ Die Verblüffung des ersten Augenblicks ließ nach, und sie spürte, wie ihre Glieder zu zittern begannen. Todesangst breitete sich in ihrem Körper aus – sie konnte förmlich spüren, wie sie bis in jeden Finger kroch.
    „Du missverstehst mich“, meinte er. „Ich werde dich nicht töten. Du sagst es ja selbst – davon hätte ich nichts. Das werde ich anderen überlassen.“ Bei diesen Worten schielte er nach oben, zur Spitze des Turmes.
    Mama fiel es wie Schuppen von den Augen. Er war tatsächlich wahnsinnig! Nicht einfach nur exzentrisch. Auch nicht abergläubisch. Nevin MacNorras war jemand, den man wegschließen musste. Sicher hatte er damals seinen eigenen Vater getötet, als kleiner Junge. Er musste es gewesen sein, der auf den Turm geklettert war und den Stein auf ihn herabgeworfen hatte. Vielleicht war es aus Absicht geschehen, vielleicht hatte es auch ein Spiel sein sollen, das würde sie wohl nie mehr erfahren. Als der Junge begriff, was er angerichtet hatte, hatte er eine der fantastischen Geschichten benutzt, die man Kindern erzählte – von den Red Caps, die

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