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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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auf der Seite, den Kopf dem unschuldigen blauen Himmel entgegen gedreht. Der Turm erschien in ihrem Blickfeld, und oben, wo die Überreste einer Fensteröffnung zu erkennen waren, tauchte für eine Sekunde etwas Rotes auf.
    Mama stieß einen heiseren Schrei aus.
    Ihre Theorie war von Grund auf falsch.
    Nevin MacNorras war vielleicht ein Irrer, der sie töten wollte, aber den Mörder seines Vaters hatte er sich nicht eingebildet. Die Red Caps existierten, und mindestens einer von ihnen war jetzt hier, im Turm von Perrick Castle, und hatte Nevins Leben mit einem meisterhaft gezielten Wurf ausgelöscht.
    Sie starrte in den Himmel, wartete darauf, dass auch auf sie ein Stein von dort oben herabflog. Den Moment wollte sie auf keinen Fall versäumen. Vielleicht hatte sie dann noch eine Chance zum Ausweichen. Tränen füllten ihre Augen – sie wagte kaum zu blinzeln.

6
    Ein Geräusch ließ sie herumfahren.
    Sie hatte so gespannt auf die Gefahr von oben gewartet, dass sie auf ihre Umgebung nicht geachtet hatte.
    Am Fuße des Turmes bewegte sich etwas. Es war ein Mensch. Aber natürlich war es nicht Nevin. Jemand machte sich an seiner Leiche zu schaffen. Die Person trug rote Kleidung. Vor allem die rote Mütze stach ihr ins Auge. Der Mensch war klein, einen Meter fünfzig vielleicht, und wirkte ein wenig wie ein Kind. Doch lange graue Haare hingen wie Spinnweben von seinem Kopf. Mama richtete sich vorsichtig auf und sah sein Gesicht im Profil: ungewöhnlich hässliche Züge, eine riesige knorrige Nase, ein schiefer Mund, aus dem Zähne zu ragen schienen. Er beugte sich über den Toten, zog sich die Mütze vom Kopf und tauchte sie in das frische Blut. Außerdem trug er eine Art Krug bei sich, den er nun an die Kopfwunde setzte, um den hervorströmenden Lebenssaft aufzufangen. Die Wunde, die sich Nevin Sekunden vor seinem Tod am Oberschenkel zugefügt hatte, betrachtete er stirnrunzelnd.
    Der Red Cap war vom Turm herabgestiegen! Und er tat genau das, was die Geschichten ihm zuschrieben.
    Mama wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Bestimmt hatte er sie längst entdeckt. Vorerst schien sie ihn nicht zu interessieren, aber wenn sie zu fliehen versuchte, würde er das sicher zu verhindern wissen. Oder war er gerade mit seiner wichtigen Arbeit so beschäftigt, dass sie eine Chance hatte?
    Langsam begann sie zu kriechen. Kleine Steine klackerten unter ihr, und der Red Cap sah zu ihr herüber.
    Sein Blick bohrte sich wie ein Kältestrahl in den ihren. War das tatsächlich ein Naturgeist, ein Elb? Er sah menschlich aus, wenn auch ungewöhnlich. Die Distanz zwischen ihnen betrug vielleicht zehn Meter. Sie konnte erkennen, dass sein Mund glänzte, wie bei einem Menschen, der sich erregt die Lippen leckte. Aber da war kein Blut an seinem Mund. Er trank nicht. Nun allerdings tat er etwas Grauenvolles: Er nahm die Mütze, die er eben sorgfältig eingetunkt hatte, und stülpte sie sich über den Kopf. Es dauerte nicht lange, und dicke, zähflüssige Rinnsale aus feuchtem Rot liefen über sein Gesicht. Er schien zu grinsen, aber genau konnte man das bei diesem schiefen, verzerrten Mund nicht sagen. Eine Art perverser Stolz spiegelte sich auf seinem Gesicht. Seine Augen schienen sagen zu wollen: Bin ich nicht hübsch mit meinem schönen roten Käppchen?
    Mama stöhnte. Sie versuchte sich aufzurichten, stolperte gebeugt ein paar winzige Schritte in verdrehter Haltung. Bei dem Versuch, sich auszubalancieren, schlug sie sich die Hände an den Steinen auf. Ihren diagonal an ihre Hand gefesselten Fuß brachte sie kaum vom Boden, und sobald sie an die Grenze ihrer Möglichkeiten ging, drohte sie vornüber zu fallen.
    Die Umgebung tanzte vor ihr auf und ab. Ein Blick hinter sich verriet ihr, dass der Red Cap ihr nun folgte. Er tat es eher gemächlich, und dennoch kam er näher. Er war wie ein Kind, das mit einer Blindschleiche spielte. Er wusste, dass sie ihm nicht entkommen konnte.
    Mamas Verstand schlug Kapriolen, sie sah den Tod schon vor sich. Jeder herumliegende Stein konnte zu einem Mordwerkzeug werden. Wie mochte es sich anfühlen, wenn einem der Schädel eingeschlagen wurde? So unwesentlich die Frage war, sie füllte nahezu ihren ganzen Geist aus und ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Das Wesen anzusprechen und um Gnade anzuflehen, versuchte sie erst gar nicht – es hatte bei Nevin nichts gebracht, wie sollte es bei einem Geschöpf fruchten, das Menschen tötete, um seine Mütze einzufärben?
    Sie hatte den Rand der Ruine erreicht,

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