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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Wagen ab, und für eine Stunde verwandelten sie sich in zwei ausgelassen kichernde Kinder und beobachteten so charmante Wettbewerbe wie Käserollen, Blutwurstweitwerfen und Wettlügen. Die Städte umfuhr er hartnäckig, als wäre er allergisch gegen sie, und so bekam sie nichts von den grauroten Backsteinslums der Industriemetropolen mit.
    Sie übernachteten auf halber Strecke in Halifax in einem traditionsreichen Gasthof, der – wie konnte es anders sein – von einem Schotten geführt wurde. Der Name MacNorras sagte dem Wirt etwas, und Nevin musste sich an der Wand des Frühstücksraums verewigen.
    Sie hielten sich westlich, kamen an den wildromantischen Cumbrian Mountains mit ihren vielen Seen vorbei und passierten die uralte Stadt Carlisle, die so manche blutige Schlacht zwischen Schotten und Engländern erlebt hatte. Mama hatte längst das Gefühl, in eine Welt aus Träumen und Legenden eingetaucht zu sein, und allmählich begann sie, anders über das Thema Feen und Fabelwesen zu denken. Selbst die bluttriefenden Red Caps schienen in eine solche Welt zu passen, denn hinter all der Verspieltheit der Briten spürte sie etwas Raues, nahezu Barbarisches. Waren ihr die Leute in London manchmal unnatürlich und affektiert vorgekommen, wirkten die Menschen hier im Norden stolz und unbeugsam. Wenn sie nicht gerade von Feen und Kobolden sprachen, schienen sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen zu stehen.
    Sie fuhren an der Küste entlang, erreichten die Ortschaft Alloway in der Grafschaft Ayrshire, die Heimat des beliebtesten schottischen Dichters Robert Burns. Diesen Namen hatte Mama allerdings noch nie gehört, was Nevin für eine halbe Stunde schwer verstimmte. Wenige Kilometer östlich davon lag der kleine Flecken, in dem Nevin MacNorras aufgewachsen war. Seltsamerweise war es immer wärmer geworden, je weiter sie nach Norden kamen, und die Sonne brannte heiß vom Himmel, als sie am frühen Nachmittag vor dem einzigen Gasthof des Dorfes ausstiegen.
    Der Designer lud sie dort auf einen Tee ein und wurde sofort von dem kleinen, stämmigen Wirt gefragt, wo er herkomme. Als Nevin sich vorstellte, musste sich der Mann erst einmal setzen. „Wir haben das Grab des alten Ewan, deines Vaters, in Ordnung gehalten“, sagte er atemlos. „Ach ja, Nelly ist letzte Woche Großmutter geworden, du weißt schon, die Blonde, die dir immer schöne Augen gemacht hat. Und heute Morgen ist eine Fremde ins Dorf gekommen. Vielleicht triffst du sie noch.“
    „Wie lange, sagtest du, warst du nicht mehr hier?“, erkundigte sich Mama, als der Wirt gegangen war, um einen Begrüßungsdrink zu holen.
    „Mehr als vierzig Jahre.“
    „Man hat dich nicht vergessen.“
    „Hier vergisst man nicht so leicht etwas.“ Nevin kippte den Whisky, den der Wirt brachte, etwas hastig hinunter und machte sich zum Friedhof auf. Der Totenacker war noch immer ein irgendwie schief wirkendes Stück Erde hinter der Kirche. Die Kirche war kürzlich frisch gestrichen worden, doch man sah ihr an, dass unter dem Anstrich ein enormes Alter lag. Das Grab fand er auf Anhieb. Es war voller Blumen, als wäre der Mann erst gestern gestorben. Nevin stand zehn Minuten davor und heulte wie ein Schlosshund. „Weißt du“, erklärte er, „der Wirt hat ihn den alten Ewan genannt, und das macht mich so glücklich, dass ich den Verstand verlieren könnte. Mein Vater ist mit ihnen allen alt geworden, obwohl er niemals seinen sechsunddreißigsten Geburtstag feiern konnte.“
    Auch Mama fühlte die Feuchtigkeit in ihren Augen. Sie hakte sich bei ihm unter und schmiegte sich ein wenig an ihn, ohne es zu übertreiben. Umso überraschter war sie, als er sich plötzlich die Tränen abwischte und sagte: „Perrick Castle! Wir müssen hin!“
    „Hat das nicht Zeit? Bis morgen, zum Beispiel?“
    „Ich muss es sehen, jetzt!“ Er ließ das Grab hinter sich, lief zum Ausgang.
    „Und was willst du dort?“ Es gefiel ihr nicht, wie er sie auf einmal mit sich zerrte, und sie löste sich von ihm, ging aber neben ihm her und hielt seine schnelle Gangart mit. „Glaubst du, da liegen noch mehr Briefe herum?“
    „Was?“ Verwirrt sah er sie an, wie jemand, den man aus tiefen Gedanken gerissen hatte. Dann stieg er in seinen Wagen. „Wir fahren hin.“
    „Und wenn ich keine Lust habe, mitzukommen?“
    „Willst du warten, bis es dunkel wird?“
    Sie fluchte lautlos und stieg links ein.

4
    „Hey, was ist das? Das ist ja wie aus dem Märchen.“
    Roy Richter kam zu sich.

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