Falkengrund Nr. 32
kannst du nicht, Roy?“
Dich ihnen ausliefern , dachte er. Ich weiß, was sie mit dir tun. Ich weiß es, weil ich in einem ihrer perversen Gedichte darüber gelesen habe. Am Ende wirst du tot sein, aber bis dahin – oh Gott, ich darf gar nicht daran denken.
„Ellen“, flüsterte er. „Bitte hör mir jetzt gut zu! Wir müssen hier raus. Auf der Stelle. Am besten gehen wir nackt, wie wir sind. Es geht um …“
„Nackt?“, rief sie laut. „Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?“
Er packte sie unsanft und zerrte sie vom Bett herunter. Sie wehrte sich. Kein Wunder. Sie verstand ja nichts. Aber um ihr das zu erklären, was sie wissen musste, würde er weit ausholen müssen. Konnte man so etwas überhaupt erklären, in einer Stunde, in zwei oder drei? Brauchte man nicht Jahre dazu, um zu begreifen, so wie auch er Jahre gebraucht hatte?
Ich hätte mich darauf nicht einlassen dürfen , hielt er sich vor. Warum konnte ich nicht einfach Kokain schnupfen wie die anderen Designer? Warum musste ich mich von Dunstey überreden lassen? Warum musste ich zu diesem Dr. Hasselburgh gehen? Schuld an allem ist MacNorras. Hätte er Dunstey damals im Whiskyrausch nicht von ihnen erzählt, hätten sie keine Macht über uns bekommen. Gott im Himmel, sie sind die schlimmste Droge, die es geben kann.
Roy lud sich das Mädchen auf die Schulter. Die Schöne strampelte und stieß dabei mit dem Fuß die Lampe von der Decke. Es klirrte. Die Lampe war ihm egal. Er konnte eine neue kaufen. Aber wenn sich jemand in einem Winkel der Wohnung verbarg, wusste er spätestens jetzt, dass sie sich überhastet zur Flucht entschlossen hatten, und das war schlecht. Das war möglicherweise tödlich.
Hatten sie ihm zugesehen, wie er es mit Ellen getan hatte? Drei, vier Mal hatte sie in dieser Nacht Sex gehabt, und sie hatten sich dabei nicht an den katholischen Leitfaden für ehelichen Beischlaf gehalten, hatten fröhlich und munter durchprobiert, was Mann und Frau alles miteinander anfangen konnten.
Während Roy mit seiner Last durch das große Schlafzimmer lief, griff er nach zwei Badetüchern. Wo war seine Brieftasche? Es fiel ihm nicht mehr ein, und er gab sie auf. Auch das schlanke Mädchen wurde schwer, da es sich heftig zur Wehr setzte, und er taumelte durch den Flur und prallte abwechselnd rechts und links gegen die Wand. Nun hatte er die Wohnungstür erreicht. Drückte die Klinke.
Die Tür öffnete sich nicht. Sie war abgeschlossen.
Er konnte sich nicht erinnern, das getan zu haben. Sie fiel stets ins Schloss und war von außen ohnehin nicht zu öffnen, deshalb machte er sich nie die Mühe, sie von innen noch eigens zu verriegeln.
Sie hatten es getan. Sie hielten sich also tatsächlich hier auf.
Wo waren die Schlüssel? In seiner Hose. Und wo war seine Hose?
Inzwischen hatte Ellen sich befreit und rüttelte selbst wie verrückt an der Klinke. Sie musste zu dem Schluss gekommen sein, es mit einem Irren zu tun zu haben, und die Option, nackt durch die Stadt zu rennen, gefiel ihm offenbar besser als die Alternative, mit ihm hier eingeschlossen zu sein. Dabei wusste sie noch nicht einmal, wie ihre Alternative wirklich aussah …
Roy hämmerte und trat gegen die Tür, wohlwissend, dass er sie auf diese Weise nicht aufbekommen würde. Voll ohnmächtiger Wut warf er sich mit dem ganzen Körper dagegen. Dann rannte er zurück ins Schlafzimmer, um die Schlüssel zu suchen. Und stieß ein Röcheln aus.
Auf die Wand über dem Bett waren Buchstaben gemalt, ihre Lettern. In diesem Moment hasste er sich selbst dafür, dass er sie lesen konnte.
Diesmal war es ein Einzeiler, schmucklos, kein Gedicht.
„Widersetze dich uns nicht.“ Eine klare Botschaft.
Wer das geschrieben hatte, konnte nur Sekunden dafür zur Verfügung gehabt haben. Und musste sich noch im Raum befinden!
Roy Richter wirbelte herum. Nicht schnell genug.
Ein Stein flog auf ihn zu und zerschmetterte seine Stirn.
5
Die Unruhe, die Nevin ergriffen hatte, wurde auf der kurzen Fahrt stärker, und als die Ruine auftauchte, würgte er den Wagen zweimal beinahe ab, bis er ihn zum Stehen brachte. Sie stiegen aus. Die Landschaft war unauffällig – sanfte Hügel und saftiges Gras, wohin man sah. Die Ruine, die auf einer flachen Anhöhe stand, hinterließ nur einen schwachen ersten Eindruck bei Mama. Das Hauptgebäude stand noch, ein dunkler Turm ragte schmutzig und etwas krumm empor, doch im strahlenden Sonnenlicht wirkte er harmlos.
Nevin kickte missmutig einige Getränkedosen
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