Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
als sie begriff, dass sie einen Fehler beging. Perrick Castle befand sich in the middle of nowhere , wie die Briten zu sagen pflegten, mitten im Nichts. Wenn es noch eine Chance gab, ihr Leben zu retten, dann bestand sie darin, sich in einem der Gebäude zu verschanzen. Eine Flucht nach außen in ihrem Zustand wäre Irrsinn gewesen.
    Drei kleinere Bauwerke reihten sich aneinander, ehemalige Stallungen vielleicht oder Wohnungen für das Gesinde. Ihre Dächer waren eingestürzt, ganze Wände fehlten. Sie boten keinerlei Schutz. Anders das Hauptgebäude. Es hatte einen gut erhaltenen Eindruck gemacht, als sie es zuvor passiert hatte. Zwar fehlten auch dort überall die Fenster, die klobigen Zinnen waren herabgefallen, doch vielleicht gab es im Inneren ja einen Raum, eine kleine Kammer, die sich verschließen ließ.
    Mama humpelte mit schmerzendem Rücken und aufgeschürften Händen hinter einer einzeln dastehenden Wand vorbei. Der Red Cap folgte ihr ohne Eile. Sein Gesicht war blutüberströmt. Das Gefäß, in dem er Nevins Blut gesammelt hatte, hatte er abgestellt. Jetzt bückte er sich nach einem Stein, wog ihn in der Hand, blieb stehen und schien zu zielen.
    Als Mama hinter der Wand hervorkam, ließ sie sich fallen. Gerade noch rechtzeitig, denn der Stein flog über ihren Kopf hinweg. Er war mit enormer Kraft geschleudert worden, streifte den Rand der Wand und riss ein paar Brocken heraus.
    Jetzt stolperte sie los, gab alles, kämpfte sich auf das Hauptgebäude zu, das wenige Meter vor ihr dunkel und alt aus dem Boden wuchs. Hinter den leeren Fensterlöchern schienen Schatten auf sie zu lauern. Der Red Cap beobachtete sie eher belustigt. Offenbar hatte er seinen Spaß daran, wie sich sein Opfer selbst in die Falle manövrierte. Mamas Körper war ohnehin in kalten Angstschweiß gebadet, doch wenn sie nur an dieses Gesicht dachte, strömte es geradezu aus ihren Poren. Sie erreichte den Eingang und hinkte von dem mit grellem Sonnenlicht durchdrungenen Tag hinein in eine Welt der Dämmerung. Sie riss den Kopf hoch, so weit das in ihrer gebückten Haltung möglich war, und für einen schrecklichen Moment glaubte sie in den Schatten Gestalten zu erkennen, weitere Red Caps, die sich hierher zurückgezogen hatten und nur darauf warteten, dass eine dumme, einfältige Ausländerin, die bis vor wenigen Minuten nicht einmal an ihre Existenz geglaubt hatte, ihnen in die Krallen lief.
    Aber da war nichts. Nur die hochaufstehenden Überreste ehemaliger Wände. Die Hoffnung auf ein Versteck, das sich schließen ließ, zerrann, als sie den desolaten Zustand des Inneren erkannte.
    Die ganze Zeit über pendelte ihr Blick sekündlich zur Tür, und nun zeigte sich tatsächlich der Albtraum, dem sie mit panischer Angst entgegengezittert hatte: die kleine, zwergenhafte Gestalt, den Kopf schief gehalten wie ein neugierig hereinspähendes Kind. Ein Sonnenstrahl streifte die noch immer feucht glänzende Mütze. Der Red Cap hielt zwei Steine in der Linken und einen dritten in der Rechten.
    Mama wünschte sich Nevin zurück. Gemeinsam hätten sie diesen Gnom überwältigen können. Aber Nevin war nicht mehr lebendig zu machen. Er hätte so oder so nicht auf ihrer Seite gestanden. Dabei hatte sie ihm nicht einmal geglaubt. Ihm nicht, und dem Professor aus Edinburgh nicht. Der Red Cap näherte sich. Die Steine klackten in seinen Händen. Ihre Zähne klapperten vor Angst. Warum kam denn niemand? Jemand aus dem Dorf. Irgendjemand musste doch auftauchen und sie retten! Es konnte doch nicht sein, dass sie in den nächsten Sekunden einen Stein an den Kopf bekam und alles in einem Loch aus endgültiger Schwärze verschwand? Erst vor ein paar Wochen hatte ihr Vater behauptet, sie hätte ihr ganzes Leben noch vor sich. Es hatte wie eine Vorhaltung geklungen. Damals hatte sie mit der Vorstellung nichts anfangen können, und jetzt kam sie sich belogen und betrogen vor.
    „Himmel, du brauchst mein Blut nicht!“, brüllte sie mit einer Stimme, die sie selbst nicht wiedererkannte. „Deine Mütze ist schön – wunderschön! Roter wird sie verdammt noch mal nicht mehr!“
    Ihr wurde übel von ihren eigenen Worten, doch sie durfte sich nicht übergeben. Und falls sie sich doch übergeben musste, durfte sie ihn dabei nicht aus den Augen lassen. Die Steine waren eine tödliche Waffe. Ihre Glieder schmerzten immer stärker von der ungewohnten Haltung, ihre Muskeln blieben in ständiger Anspannung. Sie wich zurück, ein wenig wie eine seitwärts kriechende

Weitere Kostenlose Bücher